Vor zwei Wochen erschien in der kremlnahen russischen Tageszeitung Nesawisimaja Gazeta ein Artikel mit dem Titel: "Joschka Fischer - Totengräber der russisch-deutschen Beziehungen." Der Autor, Igor F. Maximytschew - jahrelang sowjetischer Spitzendiplomat in Bonn, Berlin und Paris - begleitete als sowjetischer Gesandter in Ost-Berlin 1990 die Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen und ist einer der führenden Deutschland experten Russlands. Seine ganz und gar undiplomatische Sicht, die in mehreren deutschen Tageszeitungen auszugsweise zitiert wurde, hat in den außenpolitischen Zirkeln der Berliner Republik für einigen Wirbel und Unmut gesorgt. Der Freitag bat Herrn Maximytschew, seine Thesen im Lichte der Moskauer Gespräche zwischen Präsident Putin und Außenminister
Ätzende Enttäuschung
ROT-GRÜNES SCHERBENGERICHT Das russisch-deutsche Verhältnis steht zwei Schritte vor dem Bruch
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ister Fischer exklusiv für ein deutsches Auditorium zu formulieren.Als im September 1998 SPD und Grüne die Regierung in Deutschland übernahmen, war ich trotz allgemeiner Skepsis optimistisch genug, im russischen Fernsehen eine Blütezeit für die deutsch-russische Zusammenarbeit anzukündigen. Handelte es sich doch um Nachfolger der friedensstiftenden Tradition eines Willy Brandt und um Erben der Antikriegsbewegung der deutschen Jugend aus den achtziger Jahren! Eine solche Konstellation wäre auch zu UdSSR-Zeiten zukunftsweisend gewesen, meinte ich. Mit einem post-kommunistischen Russland hätte sie nun eine dauerhafte Zusammenarbeit beider Nationen in Europa und für Europa garantieren müssen.Freilich gab es schon in diesem Moment ernste Probleme im deutsch-russischen Verhältnis, allen voran die NATO-Expansion gen Osten, die von Bonn begeistert mitgetragen und von der russischen Öffentlichkeit als Verrat des Westens an seinen Treueschwüren von 1990 aufgefasst wurde. Der Bedarf an Ini tiativen zur Verbesserung der Beziehungen, zur Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens lag also klar auf der Hand. Um so ätzender war die Enttäuschung, als sich bald herausstellte, dass die rot-grüne Koalition nicht nur keine Korrektur im Sinn hatte, sondern darüber hinaus bereit war, völkerrechtliche Verpflichtungen über Bord zu werfen, die Deutschland 1990 gegenüber Moskau (und nicht nur Moskau!) bei der Herstellung seiner staatlichen Einheit übernommen hatte.Allzu leicht und allzu oft vergisst man in Deutschland, dass es solche Verpflichtungen gibt und dass sie auch heute gültig bleiben. Im "Moskauer Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990" (Zwei-plus-Vier-Vertrag) heißt es wörtlich (Artikel 2): "Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass vom deutschen Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht unternommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen".Man könnte gleichermaßen auf den Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR vom 9. November 1990 verweisen (er gilt für Deutschland und Russ land auch nach 1991 unverändert weiter), wo es explizit heisst: "Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bekräftigen, daß sie sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt enthalten werden, die gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der anderen Seite gerichtet oder auf irgendeine andere Art und Weise mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen oder mit der KSZE-Schlußakte unvereinbar sind. Sie werden ihre Streitigkeiten ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und keine ihrer Waffen jemals anwenden, es sei denn zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Sie werden niemals und unter keinen Umständen als erste Streitkräfte gegeneinander oder gegen dritte Staaten einsetzen. Sie fordern alle anderen Staaten auf, sich dieser Verpflichtung zum Nichtangriff anzuschließen" (Artikel 3). Wie leicht einzusehen ist, sind diese beiden Texte mit dem NATO-Krieg auf dem Balkan völlig unvereinbar.Man kann Helmut Kohl oder Klaus Kinkel vielerlei vorwerfen - Verträge hat die Bundesregierung unter ihrer Führung immer respektiert. Solange sie da waren, haben Bundeswehrsoldaten nie im Ausland geschossen oder bombardiert. Sobald sie aber weg waren, hat man vertragliche Verbindlichkeiten einfach links liegen lassen. Ausgerechnet in einem Moment, als die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik an einen Vertreter der Grünen überging, begann mit der deutschen Beteiligung am NATO-Angriff auf Jugoslawien, der nie das Plazet der UNO erhielt, eine neue Kriegszeit für die Deutschen. Außerhalb Deutschlands, nicht nur in Russ land, sorgt man sich nun: Wenn schon die Gegner von Gewaltanwendung und die Pazifisten Angriffskriege führen, was ist von ihren politischen Opponenten zu erwarten, wenn sie an die Macht kommen?Die unfassbare Verwandlung der heute in Deutschland Regierenden erklären deutsche Medien oft durch den Aufstieg von Politikern einer Nachkriegsgeneration, die sich nicht erinnere und nicht erinnern wolle an die Schuld ihrer Väter und Großväter. So eine Politik des verkürzten historischen Gedächtnisses wäre aber nur möglich, wenn alle Nationen Europas beschlossen hätten, von einem Tag auf den anderen ihre Geschichte samt der darin enthaltenen Lehren und Warnungen zu vergessen. Da das nicht der Fall ist, kann sie nichts als Unheil stiften. Das Gedächtnis der Russen ist jedenfalls intakt. Sie können nicht den 22. Juni 1941 und das, was darauf folgte, aus ihrer Erinnerung tilgen: Zu schrecklich sind die Verluste an nationaler Substanz gewesen, zugefügt durch den Angriff Hitler-Deutschlands auf ihr Land. Dasselbe trifft wahrscheinlich auch für Franzosen, Engländer, Holländer, Juden und andere zu.Aber abgesehen von den Schatten der Vergangenheit steht heute das deutsch-russische Verhältnis zwei Schritte vor dem Bruch. Vor zehn Jahren waren die Russen überzeugt, dass die Deutschen-West wie die Deutschen-Ost ihre Freunde sind. Deshalb haben sie damals keinen Widerstand gegen die Absicht der Deutschen geleistet, ihre Einheit herzustellen. Kein Politiker, kein Militär, kein Vertreter der öffentlichen Meinung in Moskau kam auf die Idee, den Status quo mit Gewalt halten zu wollen, obwohl alle Mittel dafür vorhanden waren. Die russische Logik war eben: Wie kann man gegen eine Vereinigung von Freunden sein? Diese Logik war ausschlaggebend dafür, dass der Weg zur deutschen Einheit unblutig verlief.Und jetzt die entscheidende Frage: Haben die Russen nicht wenigstens etwas Dankbarkeit dadurch verdient, dass sie im spannendsten Umbruchsmoment der Nachkriegsgeschichte den Deutschen die Hand zur Freundschaft anboten? Die Antwort lautet leider: Anscheinend nicht, denn es gehört zum guten Ton im heutigen Deutschland, Russland schon wieder als Reich des Bösen abzuqualifizieren, es allen möglichen Unrechts zu bezichtigen, seinen Ausschluss aus europäischen Organisationen zu betreiben und hysterisch zu Sanktionen gegen Russ land aufzufordern. Eine Kampagne der Russophobie die von offizieller Seite nach Kräften unterstützt wird.Die Aufgabe eines wahren Diplomaten besteht darin, die Erfüllung von Staatsverträgen zu kontrollieren, Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, Konflikten vorzubeugen, Kompromisse zu schmieden und objektive Informationen über die Situation in anderen Ländern zu verbreiten. Anders heute in Deutschland. Manche Vertreter des Auswärtigen Dienstes tun sich vor allem im Informationskrieg hervor, den der Westen zur Zeit gegen Russland führt, um seinen barbarischen Krieg auf dem Balkan vergessen zu lassen. Sie lancieren gefälschte Auskünfte über die Lage in Russland und in Tschetschenien, über die erzwungene Antiterroraktion der russischen Regierung, die nur das Ziel verfolgt, ein Nest von Menschenraub und Menschenhandel, von Plünderung und Narkobusiness, Sklavenhaltung und internationalem Terrorismus im Nordkaukasus auszuheben. Ausgerechnet der deutsche Außenminister hat die These über die Alternativlosigkeit der ÂBestrafung Russlands in die Welt gesetzt, wenn es dem Befehl des Westens trotzt und keine Gespräche mit den Terroristen und Banditen aufnehmen sollte.Dabei wird bewusst das bewährte Kosovo-Szenario als Grundlage für die Behandlung Russlands benutzt. Terroristen sind ausschließlich diejenigen, die dem Westen Schaden zufügen; wer andere terrorisiert, ist das nicht. Die rein terroristische "Befreiungsarmee des Kosovo" stand und steht zum Beispiel unter dem bewaffneten Schutz des Westens. Nun sind es die Terroristen und ihre internationalen Söldner in Tschetschenien, die westliche Gunst genießen sollen.Die antirussische Stimmungsmache in Deutschland ruft entsprechend unerfreuliche Reaktionen in Russland hervor. Um so mehr, da man von verschiedenen Seiten die Russen zu überzeugen sucht, das geeinte Deutschland sei "natürlicher Gegenspieler" eines einheitlichen Russland. Die große Mehrzahl der Russen weigert sich bislang, in den Deutschen ihren Erbfeind zu sehen. Sie sind nach wie vor überzeugt, dass Deutsche und Russen geschaffen sind, sich zu ergänzen, nicht sich zu bekämpfen. Die Geschichte hat bewiesen, dass Europa nur dann in Ruhe und Frieden leben kann, wenn Deutsche und Russen miteinander eine gegen niemanden gerichtete Kooperation aufbauen. Zwei mörderische Weltkriege sind ausreichendes Zeugnis dafür. Heute jedoch läuft das vereinte Deutschland wieder Gefahr, die Grundlagen seiner Kooperation mit Russland mutwillig zu zerstören.Die Lage ist zwar noch nicht hoffnungslos. Der jüngste Moskau-Besuch des deutschen Außenministers verlief wider Erwarten insgesamt positiv: Keine neuen Drohungen, keine Ultimaten; statt dessen glaubwürdige Argumente gegen eine Isolierung Russlands in Europa. Es ist offensichtlich, dass der Druck der öffentlichen Meinung zugunsten guter Nachbarschaft mit Russland dabei ist, seine Wirkung zu zeigen. Dieser Druck darf nicht nachlassen. Es geht um die Zukunft für uns alle, für Europa, für die Welt.
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