Auf Tuchfühlung mit dem Kalten Krieg

STRATEGISCHE FEINDSCHAFT STATT STRATEGISCHER PARTNERSCHAFT Allen Anschein zum Trotz brachte auch der OSZE-Gipfel für Russland eine weitere Niederlage

Die Diplomatie hat noch einmal gewonnen, so jubelten die Teilnehmer des Instanbuler OSZE-Gipfels. Und auch russische Politiker bewerteten die lauwarme Kritik des Westens an ihren Bombardements in Tschetschenien als Erfolg. Allen scheint geholfen: Der Krieg ist kein Krieg, sondern eine "antiterroristische Aktion". Seit der OSZE-Konferenz ist das keine ausschließlich russische Sprachregelung mehr. Auch die Flüchtlinge heißen nun nicht länger "Flüchtlinge", sondern firmieren unter "zeitweilig Umgesiedelte" - jedenfalls sei ihre Lage nicht als Katastrophe zu bewerten. Das weiß die Welt - entgegen aller moralischen Empörung, mit der im Westen das Flüchtlingsschicksal bisher wahrgenommen wurde - spätestens seit dem Besuch der UN-Flüchtlingskommissarin Sadako Ogata in einem inguschetischen Camp. Wenn sie dort mit keinem einzigen Lagerbewohner sprechen konnte, spielt das für die Lagebeurteilung offenbar keine Rolle.

Vom Ölgeschäft suspendiert
Dennoch - allem Anschein zum Trotz - könnte es sein, dass Istanbul ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der Niederlagen ist, die Russland im vergangenen Jahrzehnt einstecken musste. Ein kleiner Blick auf das Beiprogramm des OSZE-Gipfels genügt: Auf Einladung der türkischen Regierung trafen sich die Präsidenten Aserbeidschans und Georgiens - Hejdar Alijew und Eduard Schewardnase - mit dem türkischen Präsidenten Demirel und Bill Clinton, um einen Vertrag über den Bau einer Ölpipeline von Baku in Aserbeidschan bis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu unterzeichnen. Gleichzeitig wurde das Projekt einer geplanten Pipeline von Turkmenistan in die Türkei durch die ebenfalls anwesenden Präsidenten Turkmenistans und Kasachstans - Saparmurad (Türkmenbasi) -, und Nursultan Nasarbajew - gleichfalls assistiert vom Präsidenten der USA, abgesegnet.

Seit sechs Jahren liefen entsprechende Verhandlungen, bei denen sich Iran, Russland und die Türkei die Klinke westlicher Konzerntüren gegenseitig in die Hand gaben (s. Freitag 40/99). Bislang wurde das Kaspi-Öl über die sogenannte Nordroute auf russischem Gebiet - unter anderem durch Tsche tschenien - geleitet. Der jetzige Vertrag sieht indes vor, die Pipeline von Baku nördlich an Armenien vorbei durch Georgien und die Türkei zum Terminal von Ceyhan zu führen. Damit wären Russland und Iran vom Transitgeschäft suspendiert. Ähnliches gilt für das kasachisch-turkmenische Projekt.

Unter ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten ist der Transport des Kaspi-Öls von Aserbeidschan durch Georgien und die Türkei bis zum Mittelmeer die schlechteste aller denkbaren Varianten für diesen Raum. Im Norden existiert die bisherige russische Pipeline zum Schwarzmeerhafen Noworossisk, die weiter in Anspruch genommen werden könnte, allerdings auf Stabilität in der Kaukasus-Region angewiesen wäre. Nach Süden - über iranisches Territorium zum Persischen Golf - wäre der Weg kürzer; auch hier ließen sich vorhandene Anlagen nutzen, dazu wäre jedoch eine Einigung mit dem zum Erzfeind hochstilisierten Iran vonnöten. Dass nun die "westliche Option" zum Zuge kommt, geht allein auf das Betreiben der US-Politik im Verein mit dem britischen Konzern BP-Amoco zurück, wobei der zugleich wissen ließ, die neue Pipeline werde sich nur dann rentieren, wenn die jetzige Förderung von 100.000 Barrel Rohöl pro Tag um das Zehnfache gesteigert werde. Fachleute - nicht zuletzt russische - bezweifeln, ob die kaspischen Ölfelder das hergeben.

Mehr denn je lassen die jetzigen Entscheidungen für veränderte Öl-Routen, die sich gegen Russland und Iran richten, erkennen, wie sehr hier politische Motive im Spiel sind. Kein Wunder also, wenn Verteidigungsminister Sergejew die Unterzeichnung der bewussten Verträge mit den Worten kommentierte, man versuche sein Land "aus den strategisch wichtigen Weltregionen zu verdrängen, besonders der Kaspi-Region, dem Transkaukasus und Zentralasien."

Wenn man sich vor Augen hält, dass sowohl Aserbeidschan als auch Georgien beim Washingtoner NATO-Gipfel im April als Beobachter teilnahmen, dass sie Stationierungs- und Ausbildungsverträge mit der Allianz abgeschlossen haben und eine NATO-Mitgliedschaft anstreben - wenn man überhaupt in Betracht zieht, welche Eigendynamik die NATO-Osterweiterung in Verbindung mit der neuen NATO-Doktrin entwickelt, dann ergeben sich daraus entscheidende Motive für den russischen Feldzug im Kaukasus.

Auch Turkmenistan orientiert sich inzwischen nach Westen. Kasachstan sucht, seiner ethnischen Zusammensetzung - halb slawisch, halb kasachisch - gemäß, eine Vermittlerrolle zwischen Russland und den von Moskau abdriftenden zentralasiatischen GUS-Staaten einzunehmen, von denen nur Tadschikistan aus purem Eigeninteresse Moskau die Treue hält.

Aus der Demütigung befreien
In Russland glaubt kaum jemand an religiöse Motive der tschetschenischen Feldkommandeure. Bassajew, nicht anders als Radujew oder der Jordanier Chattab gelten als Söldner, die für Geld kämpfen. Selbst dem einfachsten Gemüt stellt sich die Frage, woher das Budget für die Ausbildung und Unterhaltung der inzwischen nahezu 20.000 Mann zählenden Guerilla stammt. Dass hier auch Quellen existieren, die dank dem Ölgeschäft rege sprudeln, steht außer Zweifel.

Insofern kann es kaum verwundern, wenn heute in Russland jenseits aller Diplomatie eine "historische Wende" gefordert wird. Hinter einer solchen Rhetorik stehen Leute wie Alexander Prochanow, der sich rühmt, Russlands Patrioten mit der Kommunistischen Partei in einer "Philosophie, ja Religion des Sieges" zusammengeführt zu haben. Sie besagt, dass Russland sich noch in jedem Jahrhundert aus Erniedrigung zu strategischer Selbstständigkeit gegenüber dem Westen durchgekämpft habe. Dieser Kampf stehe jetzt erneut bevor. Ein weiterer Ideologe dieses Zuschnitts ist der Geopolitiker Alexander Dugin. Er erklärt die Weltgeschichte aus der Polarität von Eurasiern und Atlantikern. Gegenüber Hitler erhebt er lediglich den Vorwurf, sich für einen Zweifrontenkrieg entschieden, statt Europa mit Russland gemeinsam gegen Amerika geführt zu haben. Derzeit fordert Dugin den Aufbau einer anti-amerikanischen Front. Vor Jahren galt er noch als extremistische Randfigur. Heute ist er Berater der russischen Duma.

Selbst ein Alexander Lebed, der bisher den vaterländischen Trotzkopf geben durfte, muss sich inzwischen von den Putins, Dugins und Prochanows die patriotische Butter vom Brot nehmen lassen. Allen beschwichtigenden Beteuerungen westlicher Politiker zum Trotz ist daher absehbar, der mit der NATO-Osterweiterung begonnene und gerade mit dem anvisierten Pipelinevertrag bekräftigte Kurs des Westens wird unweigerlich zu weiterer Konfrontationen mit Russland führen.

Sie erreichen unseren Autor im Internet unter www.kai-ehlers.de.

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