Aufräumen

Dokumentarfilm Fünf Leipzig-Filme hat Andreas Voigt seit 1986 gedreht, jetzt startet der sechste. Drei Sichtweisen aus der „Freitag“-Community
Ausgabe 03/2016

Historische Ereignisse

Alfred. Geschichten von damals, als es noch um etwas ging, Alfred nicht mit seiner Cousine spielte wegen der Parteizugehörigkeit der Eltern, SPD und KPD. „Wer keine Politik macht, für den wird sie gemacht.“ Ich habe nach der filmischen Erzählung nicht das Gefühl, Alfred zu kennen. Auch die Tonspur lässt zu wünschen übrig, manchmal verstehe ich Alfreds O-Töne nicht. Leipzig im Herbst. Das Wichtigste, meint ein Demonstrant, sind freie Wahlen. Ich habe mich schon immer gefragt, wie die unfreien Wahlen in der DDR in der Praxis abliefen. Stand auf dem Stimmzettel nur eine Partei, ein Name? Auch nach dieser Doku weiß ich nicht mehr darüber als zuvor.

Letztes Jahr Titanic. Zunehmend wirr, ein paar altbekannte Namen und Gesichter: Ulrich Deppendorf, Dagmar Berghoff. Die Ästhetik der Kittelkleider der Fabrikarbeiterinnen ist mir aus meiner West-Kindheit vertraut. Keine Voice-over-Erklärungen mehr, eine Tanzveranstaltung, auf der sich manche Herren entkleiden, eine Modenschau mit halb nackten Damen, keine Ahnung, worum es geht. Kohl wird Kanzler, auf dem Rummelplatz. Glaube Liebe Hoffnung. Markenklamotten an trostlosen Jugendlichen. „Baulöwe“ Dr. Schneider befragt gönnerhaft einen Taxifahrer, seine Frau lächelt später mit glamouröser Frisur, das wartende Flugzeug bildet die Kulisse. Wie gesagt: historische Ereignisse. Mir wird sich die Trostlosigkeit einprägen. Das gerahmte Bild Hitlers über einem Bett. Groteske Gegensätze, stimmig eingefangen.

Große Weite Welt. Wiedersehen und Rückblenden. Auch im Kapitalismus wachsen Haare. Eindrücklich: die traurige Journalistin, enttäuscht oder getäuscht von der Firma, der Stasi, damals. Rosig und in Farbe, heute. Der Alltag war stärker, sagt sie. Der trostlose Mozartliebhaber ist groß und erwachsen geworden und mindestens so desillusioniert. Und im Anschluss das ansteckend lebensfrohe giggly Girl. Die Gegensätze, die sich nicht anziehen. Alles andere zeigt die Zeit. Genau. Calvani

Männer und Frauen

Sven, der Schwierige, hört das „Ave Maria“. Vorweihnachtliches Sentiment. Danach Schießübungen mit dem Kumpel vor Leipziger Abraum-Albtraumlandschaft. Ich würde gern was ändern, sagt Sven, immer wieder befragt nach Träumen und Hoffnungen. Er beharrt auf Verlust und Trauer. Männerbünde formieren und bewaffnen sich. Gruppengeborgenheit, mal „links“, mal „rechts“, am Ende in der Bundeswehr.

Svens heiß geliebte Freundin und Ehefrau Diana wird kühl und entfernt sich. Nach Liebesbeteuerungen taucht sie nicht wieder auf. Einmal registriert sie realistisch: Die Zeiten ändern sich, die Menschen ändern sich. Sven bleiben Schmerz, Absturz und die Geschichte seines Lebens auf den Körper „geschrieben“. Während Neonazi Dirk die „unausweichliche Gewalt“ erklärt, sitzt seine Freundin Jeanine dabei. Wortlos. Oft sitzen die Frauen wortlos bei den Männern und gehen dann hin, um zu tun, was sie für richtig halten.

Fünf plus eins

Andreas Voigts Leipzig-Filme (Alfred, 1986; Leipzig im Herbst, 1989; Letztes Jahr Titanic, 1990; Glaube Liebe Hoffnung, 1993; Große Weite Welt, 1997) sind als Doppel-DVD bei Absolut Medien erschienen (372 Min., 24,90 €). Der sechste Dokumentarfilm Alles andere zeigt die Zeit (2015) hat am 25. Januar im Berliner Arsenal Premiere

Bei der Tagung einer Sexliga wirken die strippenden DDR-Frauen wie die amüsierten Mütter der zuschauenden Männer. Die ehemaligen Näherinnen trinken Rotkäppchen-Sekt und sind froh, dass es sie durch den Umsturz unter die Lampions der Gartenlaube gespült hat.

Renate Florstedt enthüllt ihre IM-Geschichte, kann und soll sich wohl auch nicht von ihr befreien. Ihr Selbstmord wirkt wie die Entscheidung, sich äußerem und innerem Befragungskreislauf zu entziehen. Willfährige Täterin, willfähriges Opfer, sie taugt als Projektion für beides.

Isabel, das Grufti-Mädchen aus dem Abrisshaus mit der Lust am Schießen, geht weg aus Leipzig, trennt strikt „Arbeit“ und „Party“ und lebt ihr Leben. Sie wird Unternehmerin: eine Insolvenzverwalterin. Sie räumt in Süddeutschland den dort Gescheiterten die Schulden nach. Nennt sich nicht „kapitalistisch“, sondern spricht von Verantwortung. Ich bemühe mich, das Leben zu schaffen, sagt sie in die Kamera der 90er Jahre. So lebt Isabel, subversiv und angepasst, ein Frauenmuster. Anpassen und aufräumen. Magda

Es wird gewesen sein

Die Vergangenheit ist nicht vergangen? Sie ist in die funktionale Fiktion gerutscht. In der ideologischen Narration, als die die Geschichte erscheint, ist die Vergangenheit vergangen, mausetot, eine malerische Mumie. Wie viel 1989 ist in so einem Leben des Jahres 2015?

Die Geschichte steckt immer in den anderen. Wir sind und sie sind gewesen. Die sozialkundigen Erklärbären zeigen seit Jahren, wie die Dunkeldeutschen so ticken. Warum Rostock, warum Hoyerswerda, warum Jena. Warum gerade Dresden. Als Beweis dafür taugt grundsätzlich alles – auch jeder einzelne der Leipzig-Filme von Andreas Voigt. Das hat mit ihren Intentionen und der ästhetischen Beschaffenheit nichts zu tun. Wenn das Material nicht die Lösung ist, dann ist es eben das Problem. In jedem Fall passt es als Indiz für das, was zu beweisen war. Und jetzt, da erklärt werden muss, warum Köln, wird der Hohlsinn offensichtlich. Man kann nun gänzlich geschichtslos als Rassist gegen Sexismus sein oder Sexismus als das kleinere Übel hinstellen.

Die Leute in Andreas Voigts Filmen haben nicht die Souveränität über ihre Lebensbedingungen, die Gescheiterten nicht und die Lebenstüchtigen auch nicht. Darin liegt etwas historisch Typisches. Aber nur, wenn darüber vergessen wird, dass jede(r) ein besonderer Mensch ist, kann man eine vorgefasste Geschichtserzählung mit ihnen bebildern. Die einzige Erkenntnis, die der sozialkundeunterrichtssozialisierte Zuschauer aus Voigts Filmen ziehen könnte, hieße: Es ist alles ganz anders!

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei, schrieb Walter Benjamin. Das gilt auch für das wahre Bild der Gegenwart. Die ist ein Spiegelkabinett der Trugbilder, hergestellt aus mit „Jetztzeit geladener Vergangenheit“. Nur manchmal huscht ein wahres Bild vorbei. Zum Beispiel in einem Film. Dann ahnt man, dass es diesen „Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte“ (Benjamin) geben könnte. Goedzak

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