Aufstieg für wenige

Universitäten Der „Bildungstrichter“ gibt die miserable soziale Lage im Studium klar wieder. Nun erscheint er nicht mehr – um Unrecht zu vertuschen
Ausgabe 25/2017
Gute Bildung und der soziale Status hängt hierzulande vor allem von den Eltern ab
Gute Bildung und der soziale Status hängt hierzulande vor allem von den Eltern ab

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Alle wissen das. Und zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien liefern in schöner Regelmäßigkeit auch die harten Fakten dazu: Die deutsche Gesellschaft ist nicht durchlässig. Sozialer Aufstieg aus der Unterschicht ist hierzulande selbst für die Leistungswilligsten schwer. Gute Bildung wie Ausbildung und der damit verbundene soziale Status vererben sich quasi vom Elternhaus auf Kinder und Kindeskinder. Nach inzwischen 17 Jahren Erfahrung mit der internationalen Schulvergleichsstudie PISA wissen wir zudem: In keiner mit der Bundesrepublik vergleichbaren Industrienation weltweit ist das Bildungssystem so selektiv, ist der Bildungserfolg so abhängig von der sozialen Herkunft wie in Deutschland. Haben die Eltern studiert, werden die eigenen Kinder mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit wiederum auch ein Studium aufnehmen.

Es gab einmal einen „Bildungstrichter“, der in den regelmäßigen Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes (DSW) veröffentlicht wurde. Dieser Trichter war eine anschaulich gestaltete Grafik, die drastisch darstellte, wer aus welcher sozialen Herkunftsgruppe in seiner Bildungslaufbahn wo scheiterte – und wer entsprechend erfolgreich war: etwa beim Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule oder beim Übergang in die gymnasiale Oberstufe. Eines der klassischen, seit Jahren nur in Nuancen veränderten Ergebnisse war: Von 100 Akademiker-Kindern studieren 77. Von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Elternhäusern schaffen dagegen nur 23 den Weg in Hochschule und Studium.

Dieser Bildungstrichter war die medial wie politisch meistbeachtete Grafik in den Sozialerhebungen des Studentenwerks. Er wurde aufwendig berechnet aus Mikrozensus-Befragungen (einer Art kleiner Volkszählung), der Bevölkerungsstatistik, der amtlichen Hochschulstatistik und den kontinuierlichen Studienanfängerbefragungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Vater des Bildungstrichters war der kürzlich verstorbene Hochschulforscher Klaus Schnitzer. Er wurde nie müde, die fehlende Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem anzuprangern.

In diesen Tagen werden Studentenwerk und Bundesbildungsministerium die 21. Sozialerhebung veröffentlichen – diesmal allerdings ohne den berühmten Bildungstrichter. Das erstaunt. Ist Ungleichheit in der Bildung plötzlich kein Thema mehr? Passen die Daten etwa nicht in das Vorfeld der Bundestagswahl 2017? Vor allem dann nicht, wenn die Vorgängerregierung von Union und FDP und auch die Koalition von Union und SPD dafür gesorgt haben, dass Elternfreibeträge und Fördersummen des BAföG sechs Jahre lang eingefroren blieben – trotz gestiegener Lebenshaltungskosten?

Das deutsche Problem der sozialen Auslese wird nicht dadurch gelöst, dass man politisch missliebige Daten einfach unterdrückt. Über die Gründe, warum der Bildungstrichter diesmal in der Sozialerhebung fehlt, hört man derzeit viel Widersprüchliches und Nebulöses. Wer eine klare Sprache versteht, der kennt das Sprichwort „Wer zahlt, schafft an“. Die DSW-Sozialerhebung wird voll und ganz vom Bundesbildungsministerium finanziert. Und wer sich erinnert, wie zu Zeiten der früheren Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) so manche politisch missliebige Studie, etwa zu Studiengebühren oder zur Bachelor-Einführung, ins Gegenteil umgedichtet wurde, dem kann man gesundes Misstrauen nicht bestreiten. Ein Narr, der anderes denkt.

Nun gibt es einige Einwände, die nicht verschwiegen werden sollen. So werde unter den Wissenschaftlern seit Jahren diskutiert, den Trichter über die Selektivität von Schule wie Hochschule im nationalen Bildungsbericht unterzubringen. Schließlich stammen einige Daten für den Trichter gar nicht originär aus der DSW-Erhebung. Doch im jüngsten Bildungsbericht findet sich nur eine schwer verständliche europäische Grafik. Auf die problematische deutsche Situation wird gar nicht eingegangen.

Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft wird in seinem Bildungsreport Daten des Bildungstrichters verwenden. Ein Detail-Ergebnis: 95 Prozent der Abiturienten aus akademisch gebildeten Elternhäusern entscheiden sich unmittelbar nach dem Abi für ein Studium. Bei Kindern aus nichtakademischen Elternhäusern beträgt die Studienneigung lediglich 44 Prozent. Der Bericht wird allerdings Mitte Oktober erscheinen – nach der Wahl.

Bei der Veröffentlichung der 20. Sozialerhebung mahnte der Präsident des Studentenwerks, Dieter Timmermann, die Politik wie auch die Hochschulen, sich endlich auf die Suche nach einem Konzept zu machen, um den sozialen Verwerfungen beim Studienzugang entgegenzutreten. Geschehen ist seit 2013 nichts. Wir wissen heute, wie groß die Angst der Mittelschicht ist, das einmal Erreichte wieder zu verlieren. Wer aufgestiegen ist, setzt alles daran, dass es den eigenen Kindern nicht schlechter ergeht.

Aber für die Politik ist es offenbar einfacher, nach sechs Jahren verweigerter BAföG-Anpassung unliebsame Sozialdaten zu unterdrücken, als sich auf die Suche nach einem schlüssigen Konzept für mehr Chancengleichheit für Nicht-Akademiker-Kinder an den Hochschulen zu machen.

Karl-Heinz Reith ist freier Journalist in Berlin

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