Aus! Aus! Aus!

Linksbündig Zum Tode von Helmut Rahn

Geschichte spielt sich mitunter hinter dem Rücken ihrer Akteure ab, und bis sich die historische Bedeutung eines Ereignisses herumgesprochen hat, kann es mitunter eine Weile dauern.

Helmut Rahn erzielte ausgerechnet am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion in der 84. Minute des Finales um die Fußball-WM das 3:2 der deutschen Mannschaft über die favorisierten Ungarn. Die Stimme des deutschen Radioreporters Herbert Zimmermann überschlug sich. "Tor! Tor! Tor für Deutschland" brüllte er, "Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus" und dann "Deutschland ist Weltmeister". Kurz später stimmten die deutschen Fans das Deutschlandlied an, natürlich die erste Strophe. "Wir sind wieder wer" wurde die Stimmung in Deutschland zusammengefasst, während in Ungarn Gerüchte die Runde machten, die Deutschen hätten ihren Gegner bestochen.

Das düstere und geschichtsschwangerere Moment hatte sich schon in den Worten Zimmermanns angekündigt: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen." Der Konjunktiv, der die deutschen Möglichkeiten andeutet und dabei die Mächte der Geschichte anruft, sie mögen doch bitte vollenden.

Neun Jahre nach Kriegsende und Kapitulation des deutschen Faschismus hatte sich der westdeutsche Staat freigeschossen und schickte sich an, zu alter weltpolitischer Bedeutung zurückzukehren.

Dem WM-Erfolg 1954 folgte ein Jahr später die Aufhebung des Besatzungsstatuts, und ein weiteres Jahr später die Aufstellung einer eigenen Armee, seit jeher das deutliche Zeichen jeden Staates an seine Nachbarn, wirklich souverän zu sein.

Wer es wollte, hätte es wissen können, aber in der deutschen Öffentlichkeit hielt man, was da in Bern passiert war, für nichts Politisches. "Elf Fußballspieler sind dort nicht elf Fußballspieler", drückte etwa Die Welt ihr Unverständnis in Form von Kritik am ungarischen Gegner aus, "sondern Menschen, die mit dem Fußball ihre überlegenen politische Lebensordnung demonstrieren."

Es hat sehr lange gedauert, bis 1994 der Historiker Arthur Heinrich den öffentlich akzeptierten Nachweis führte, dass eigentlich "die Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf-Stadion zu Bern" erfolgte. Sehr lange, bis man erkannte, dass dies der Tag war, an dem aus den früheren drei Besatzungszonen das wurde, das Politologen als "Staatsvolk" bezeichnen.

Der Mann, der dieses bedeutende 3:2 für Deutschland schoss, nachdem er auch den 2:2-Ausgleich erzielt und den 1:2-Anschlusstreffer vorbereitet hatte, war Helmut Rahn aus Essen. Seine Mitspieler nannten ihn den "Boss", obwohl er in der Nationalmannschaft nicht die Führungsrolle innehatte. Das war auf dem Platz der Spielmacher Fritz Walter und im übrigen der Trainer Sepp Herberger.

Rahn war, anders als etwa Fritz Walter, nach seiner Fußballerkarriere Ruhm und vor allem nennenswerter Reichtum verwehrt. Er versuchte sich erfolglos in diversen Jobs und hatte Alkoholprobleme. Den Erfolg seines Lebens, wie er damals das Tor erzielte, verkündete er in der Eckkneipe, nicht in der Fernsehshow. Sein Tor und der durch dieses Tor besiegelte Weltmeistertitel wurde zum Symbol, ja zum Gründungsmythos der Bundesrepublik, der Mann selbst wurde es nicht. Das lag vermutlich daran, dass man sich in der hiesigen Öffentlichkeit mehrheitlich der Wahrnehmung verschließen wollte, dass an diesem 4. Juli 1954 ein Mann aus Essen Weltgeschichte schrieb. Rahn selbst, der Akteur hinter dem Rücken der Geschichte, verschloss sich dieser Erkenntnis ja auch.

Ein Leser der Süddeutschen Zeitung hatte damals die große Chance zur gesellschaftlichen Pazifizierung Deutschlands, die auch in Rahns Treffer lag, erkannt und angeregt, dass man Rahn unter dem Münchener Siegestor ein Denkmal aufstellen sollte, um "dem bitteren Wort Siegestor einen neuen Sinn zu geben". Weil man die geschichtliche Bedeutung von Helmut Rahns 3:2 aber nicht erkennen wollte, wurde auch aus diesem Vorschlag nichts.

Helmut Rahn starb in der vergangenen Woche wenige Tage vor seinem 74. Geburtstag in Essen.

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