Ende der achtziger Jahre wurde die "Zone M." (auch "Permer Dreieck" genannt) zum wichtigen Ziel russischer UFO-Pilger: Hinter dem Ural, an der Grenze Europas und Asiens, 2.500 Kilometer östlich von Moskau, waren zahlreiche "Unidentifizierte Fliegende Objekte" gesichtet worden. Dutzende Zeitungsartikel und Fernsehreportagen berichteten über das Phänomen, es erschien sogar ein Buch darüber. In den Zeiten des anrollenden Kapitalismus erwies sich die alte Liebe der Russen zu den Außerirdischen als interessanter Marktfaktor, der viel Geld versprach.
In der Sowjetunion haben UFOs stets eine Art heimliche Sehnsucht nach verbotener Ferne hervorgerufen. Genau wie die paranormalen Fähigkeiten einiger Auserwählter oder die Nostradamus-Prophezeiungen wiesen sie darauf
sie darauf hin, dass die Welt größer und geheimnisvoller sei, als sie in der langweiligen Partei-Presse erschien. Die UFOs stellten keine direkte Gefahr für das Regime dar und Ufologen waren keine richtigen Dissidenten, deshalb waren sie zwar unerwünscht, wurden jedoch nicht ganz verboten.Zehn Jahre nach der Entdeckung des russischen "Stargate" machte sich das kleine Filmteam um Regisseur Eduard Schreiber auf den Weg ins Permer Gebiet. Juli ist hier der einzige Monat im Jahr, in dem sich die sibirische Kälte eine kurze Atempause leistet - diesen Monat verbrachten sie unter den 475 Einwohnern des Dorfes Moljobka am Rande der "Zone M.". Der daraus entstandene Film Zone M. bekam nun für die TV-Premiere im NDR den Titel UFOs über Moljobka. Doch der neue Titel soll niemanden täuschen: Nicht die Begegnung mit den Außerirdischen steht im Mittelpunkt dieses meditativen Films, sondern die Begegnung mit Menschen, deren Lebensart, Gewohnheiten und Sehnsüchten dem westlichen Zuschauer fremder sind als die der meisten Hollywood-Aliens.Der seelische Zustand fast aller Moljobka-Einwohner lässt sich am besten mit einem medizinischen Terminus beschreiben: Phantom-Schmerz - jener Schmerz, den man in fehlenden Gliedern noch Jahre nach der Amputation spürt. So erinnern sich einige besonders gern an die Stolypin-Zeiten, als sich das Dorf durch die Reform-Welle zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf über 4.000 Einwohner vergrößerte. Anderen dagegen bereitet die Sowjet-Zeit den nostalgischen Phantomschmerz: Die inzwischen ausgeraubte Sowchose, das Kino, in dem seit Jahren das Unkraut wuchert. Die glücklichen Erinnerungen des Bürgermeisters Nikolai liegen auch geographisch weit weg von Moljobka: Berlin, Alexanderplatz - hier machte er als einfacher Soldat seinen Militärdienst. Sergej, der Nachtwächter, erzählt von seinen vier Ehefrauen - das Portrait der Ersten hat er sich auf den Arm tätowieren lassen - alle vier sind nun weg und die Zeiten auf den Goldfeldern von Magadan, als noch viel Geld zu verdienen war, sind auch längst vorbei. In der Ruine einer Kirche weiden Schafe; sehnsüchtig erinnert sich der alte Dorfmaler Ilja an wunderschöne Weihnachtsfeste in dem einst prächtigen Bau und an das vergoldete Kreuz, das bis 1946 noch kilometerweit zu sehen war. Damals wollte man die Kirche zum Kinderheim umfunktionieren, doch der angefangene Umbau wurde nie zu Ende geführt und einige Jahre später brach die Kirche in sich zusammen.Auch die angereisten Ufologen - egal, woher sie kommen, - sind auf Kirchentrümmern aufgewachsen und werden von ähnlichen Phantom-Schmerzen gequält wie die Moljobka-Einwohner. Die UFOs bieten Ersatz für den verlorenen Glauben, die sehnsüchtigen Erinnerungen an die Zukunft geben eine Art Sekten-Zusammenhalt. Man meditiert in der Zone und betet zu den Außerirdischen ("Oh, kosmische Vernunft, oh, Verstand des Universums!"), man schreibt Briefe an andere Zivilisationen und hinterlässt sie im Wald.Die Ablehnung des "Hier und Jetzt", die sehnsüchtige Suche nach dem längst verlorenen oder in ungreifabarer Ferne liegenden Paradies ist bestimmt nicht nur für das heutige Russland typisch. Eduard Schreiber zeigt jedoch einen wichtigen Bestandteil dessen, was der Schriftsteller Boris Chasanow "Mythos Russland" nennt - egal, ob Gegenwart, Breshnew- oder Zaren-Zeit - in Russland liegt nur in den enthusiastischen Revolutions-Epochen die Utopie vorne und muss erobert werden, während einer Stagnation ist sie Vergangenheit oder Lichtjahre entfernt, so dass nur die stille Sehnsucht nach dem Unerreichbaren bleibt.Oder eben die tiefe Enttäuschung, das Endzeitgefühl. Das Unheil kommt von Außen, aber nicht etwa von den Außerirdischen, sondern aus Moskau. Hinter den gefährlichen Reformen vermutet man dunkle Mächte: "Schrecklich stöhnt das ganze Land, als ob es jetzt der Satan lenkt", singt der Liederdichter Michail. Auch das ist der "Mythos Russland" - das Gute wie das Böse kommen immer nur aus dem Zentrum der Macht. Niemand in Moljobka versucht, die Kirche oder das Kino selbst wiederaufzubauen, niemand kommt auf die Idee, die verrosteten Überreste eines Traktors aus der Sowchose-Zeit einfach aufzuräumen; man wartet geduldig, dass alles zentral - also aus 2.500 Kilometern Entfernung - geregelt und verbessert wird.Nach der berühmten "Zone" aus Andrej Tarkowskis Film Stalker, bzw. dessen literarischer Vorlage wurde die "Zone M." im Permer Gebiet getauft. Mit dem Epigraph aus Picknick am Wegesrand der Brüder Strugatzki beginnt Eduard Schreiber seine Reise ins Innere des "Mythos Russland": "Je tiefer du in die Zone vordringst, desto näher kommst du dem Himmel". Und wie Tarkowski ersetzt Eduard Schreiber den Himmel der Aliens durch den Himmel als archaisches Symbol des Geistigen, die Begegnung mit den Außerirdischen - durch die meditative Begegnung mit der versteckten Mystik des Alltäglichen. Wie seinerzeit Tarkowski wissen auch Eduard Schreiber und sein Kameramann Rainer M. Schulz, dass das Interessanteste im Bild sich genau in dem Moment zu entfalten beginnt, wo ein Ungeduldiger die Kamera längst ausgeschaltet hätte."UFOs über Moljobka" von Eduard Schreiber am Montag, 17. 12., um 0.00 Uhr im NDR