In Schleswig-Holstein entsteht derzeit die größte deutsche Biodatenbank ("Populationsgenetische Rekrutierung von Patienten und Kontrollgruppen", kurz PopGen geannt). Wissenschaftler der Uniklinik Kiel wollen mit ihrer Hilfe nach Genen für weit verbreitete Krankheiten fahnden. Den Probanden wird eine Blutprobe entnommen. Erhoben werden auch persönliche Daten und Krankengeschichten der Teilnehmer, die an den entsprechenden Krankheiten leiden, und die Daten einer gesunden Kontrollgruppe. Unklar bleibt, welche Forschungsvorhaben das PopGen im einzelnen verfolgt und wem die Daten zukünftig zur Verfügung stehen werden. Der Magen-Darm-Spezialist Stefan Schreiber ist Leiter des Biobankprojektes und Sprecher des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN).
Freitag: Wie weit sind Sie mit dem Aufbau der Biobank PopGen?
Stefan Schreiber: Bisher wurden etwa 8.000 zufällig ausgewählte Personen für die Kontrollgruppe angeschrieben und insgesamt etwa 10.000 Kontakte und Blutproben gesammelt. DNA-Verarbeitung und Forschung an den Patienten beginnen erst, wenn das finale Audit beim Datenschutzbeauftragten des Landes stattgefunden hat.
Wann wird das sein?
In den nächsten Wochen oder Monaten, das steht unmittelbar bevor. In Schleswig-Holstein besteht ein relativ strenges Datenschutzgesetz. Wir nutzen die Möglichkeiten, die das Gesetz bietet und lassen uns prüfen. So ein Audit beinhaltet, dass ein Vertreter der Datenschutzbehörde sich vor Ort die Computer und die Datenbank anschaut und vergleicht, ob das alles auch so funktioniert, wie wir es im Konzept darstellen. Außerdem werden die Beteiligten interviewt, wie sie mit den Daten und Proben umgehen. Das ist schon eine der genaueren Überprüfungen. Erst wenn das Audit-Zertifikat da ist, legen wir richtig los, das sind schließlich hochsensitive Daten. Ich bin selber Arzt und weiß um die Gefahren, die in solchen Datensammlungen liegen.
Wie lange ist PopGen geplant?
Das Forschungsprojekt an den Proben und Daten im Rahmen von PopGen wird sich wahrscheinlich über Jahrzehnte erstrecken. Das hängt natürlich davon ab, welche Förderung es gibt. PopGen wird nur mit öffentlichem Geld betrieben, weil wir uns einem relativ hohen akademischen und ethischen Standard verschrieben haben und uns nicht kompromittieren lassen wollen.
Und wenn die Förderung nach einem oder zwei Jahrzehnten gestrichen wird? Was passiert dann mit den Daten und Proben?
Wenn es kein öffentliches Interesse mehr gibt, das Forschungsprojekt fortzuführen, muss alles vernichtet werden.
Der Nationale Ethikrat hat in seiner Stellungnahme vom März diesen Jahres vorgeschlagen, dass nach Auflösung einer Biobank Proben und Daten an der Einrichtung, an der sie erhoben wurden, weiter verwendet werden dürfen.
Wenn die Einrichtung - das ist bei PopGen die Medizinische Fakultät - aus ihrem Haushalt, also mit Steuergeldern, dafür bezahlt, ist das öffentliche Interesse ja da. Wenn aber die Einrichtung dafür nichts bezahlen kann oder möchte, dann müssen die Proben vernichtet werden.
Ist es richtig, dass die PopGen-Daten und -Proben allen Krankheitsnetzen im Nationalen Genomforschungsnetz (NGFN) zur Verfügung stehen?
Die Patientenproben werden nicht herum geschickt. Die bleiben in Kiel. Um die Analyse woanders durchführen zu können, müssten Sie ja Persönlichkeitsdaten mitliefern. Das ist schon allein technisch nicht möglich. Unser Datenschutzkonzept beinhaltet die Aufteilung in zwei verschiedene Datenbanken: In der medizinischen Datenbank sind Angaben über die Krankheiten archiviert. Die andere Datenbank enthält nur genetische Daten. Beide Datenbanken sind in einer Art elektronischem Notar verschlossen. Zusammengeführt werden die Datenbestände ausschließlich für die Analyse, und zwar mit Hilfe eines speziellen Analyseprogramms. Wenn das aggregierte Gesamtergebnis vorliegt, werden die Verbindungen wieder gelöscht.
Etwas anderes sind die Teilnehmer aus der Kontrollgruppe. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und angeschrieben. Das sind anonymisierte DNA-Proben, da gibt es keine weiteren Informationen über Lebensstil oder Vorerkrankungen. Diese DNA kann daher auch verschickt werden.
Und die in Kiel erstellten Ergebnisse?
Die Ergebnisse aus der Analyse der DNA-Proben werden den Forschungspartnern in komplizierter Form zur Verfügung gestellt. Das heißt, Forscher im NGFN können an PopGen eine Frage stellen und bekommen eine Antwort. So eine Frage kann lauten: Ich möchte wissen, wie häufig Varianten im Herzkrankheitsgen XY in der Bevölkerung vorkommen. Wir antworten dann: 67,3 Prozent der Herzinfarktpatienten haben diese Varianten im Gen XY. Das war es schon. Vielleicht kommen noch nach Bevölkerungsgruppen differenzierte Angaben hinzu - wie viele Frauen, wie viele Männer, wie viele Junge, wie viele Alte. Individuelle Daten werden nicht verschickt. Mehr darf auch nicht sein, weil sonst das Persönlichkeitsrecht der PopGen-Teilnehmer verletzt würde.
Sollen die bei PopGen gesammelten Daten und Proben ausschließlich für das Genomforschungsnetz genutzt werden?
Nicht unbedingt. Langfristig werden auch DFG-Projekte die Proben mit nutzen, aber das entscheiden die Ethikkommission der Uni Kiel und der Datenschutzbeauftragte beim Land Schleswig-Holstein. Wichtig zum Verständnis von PopGen: Wir sind keine kommerzielle Biobank. Eine Vermischung zwischen kommerzieller Nutzung und akademischer Forschung ist nicht unbedenklich. Ich persönlich finde es problematisch, wenn die kommerzielle Nutzung im Vordergrund steht. Ich bin relativ viel als Arzt tätig und will Patienten heilen. Wenn die Genetik Möglichkeiten bietet, diesem Ziel näher zu kommen, kann man sie einsetzen. Aber nicht primär für eine Kommerzialisierung.
In der Einwilligungserklärung unterschreiben die Probanden unter anderem, dass die Daten kommerziell genutzt werden dürfen ...
Da müssen Sie die Gesetzeslage ansehen, insbesondere die Novelle des Arbeitnehmer-Erfindergesetzes. Danach sind Forscher an Universitäten verpflichtet, Ergebnisse ihrer öffentlich finanzierten Forschung zur Patentierung an die Universität zu melden. Da bei PopGen nicht nach neuen Genen gesucht wird, wird es auch keine Patente geben. Bei uns gibt es kein innovatives Potenzial. Bei PopGen werden schon bekannte, krankheitsrelevante Genvarianten auf Bevölkerungsebene bestätigt oder in ihrer Häufigkeit oder Bedeutung korrigiert. Aber versuchen Sie mal, das den Patentstellen an Universitäten zu erklären. Aufgrund dieses Gesetzes steht der Passus in der Einwilligung - falls aus irgendeinem unvorhergesehenen Grund doch noch eine wichtige Erfindung gemacht werden sollte.
Im Genforschungsnetz wird explizit das Ziel formuliert, die ökonomischen Potenziale der biomedizinischen Forschung zu fördern. Ausgründungen beispielsweise erhalten öffentliche Förderung. Ganz allgemein wird in Bezug auf die öffentliche Förderung biomedizinischer Forschung immer wieder von Standortsicherung gesprochen.
Bei PopGen wird es direkte ökonomische Potentiale für eine unmittelbare kommerzielle Anwendung nicht geben. Wir haben das immer klar herausgestellt. Das ist für andere Bereiche und Projekte anders und dort auch wichtig. Das Forschungsministerium möchte Arbeitsplätze schaffen. Wenn PopGen die Bedeutung eines Krankheitsgens in der Bevölkerung nachweist und dieses Gen für Diagnostik oder die Entwicklung einer neuen Therapie benutzt werden kann, dann werden dabei sicher auch Arbeitsplätze entstehen. Aber eben nicht durch den Verkauf von Proben, also die "Verwertung" der Patienten, die jetzt mit ihren Proben und Daten zu der Sammlung beitragen. Mittel aus der Industrie ziehen Sie auf Dauer nicht an, indem Sie Ihre Kleidung verkaufen; Sie müssen sich als neuer Designer profilieren.
So wie Conaris zum Beispiel? Die Firma wurde von Ihren Kollegen am Universitätskrankenhaus Schleswig-Holstein gegründet, nachdem die beiden Gene für Morbus Crohn entdeckt worden waren, und es hält ein Patent auf ein therapeutisch eventuell nicht ganz uninteressantes Eiweiß.
Conaris ist eine Ausgründung, die aus unserem Institut und dem biochemischen Institut kommt und zwar schon zwei Jahre vor Entdeckung des ersten Morbus-Crohn-Gens. Conaris entwickelt GP130, ein Molekül, das der Biochemiker Professor Rose-John entwickelt hat und das antientzündlich wirkt. Damit arbeiten sie sozusagen nach einem fast schon standardisierten Schema: GP130 ist ein Eiweiß, das wird jetzt unter bestimmten Reinheitsbedingungen hergestellt (good manufacturing practice - "GMP") und bald auch als Medikament am Menschen evaluiert werden. Conaris macht das natürlich for profit, das ist klar. Darum ist Conaris auch ausgegründet und nicht mehr in den Räumen der Universität angesiedelt. Die Entwicklungstätigkeit von Conaris hat nichts zu tun mit Krankheitsgenen, die wir im Rahmen des NGFN suchen. Man muss allerdings erkennen, dass einige der Conaris-Wissenschaftler über einzigartige Techniken verfügen, auf die wir auch an der Uni im Rahmen einer - und das ist wichtig - akademischen Zusammenarbeit zurückgreifen müssen. Conaris oder die Uni halten keine Patente am ersten Crohn-Gen und auch das zweite Crohn-Gen wird von Conaris nicht weiter beforscht oder entwickelt.
Kann man sich als Wissenschaftler von Kommerzialisierungstendenzen abgrenzen, wenn man ständig mit ihnen zu tun hat?
Genetik ist ein sehr sensibles Feld. Wenn wir uns die Chance durch unethisches Verhalten einmal verspielen, geht das Vertrauen der Leute verloren, und das wäre sehr schlimm. Die Genetik bietet eine große Chance, die Medizin von morgen besser zu machen, aber dazu gehört auch ein vertrauensvolles Verhältnis.
Kommerzialisierung um jeden Preis ist überhaupt nicht gut. Es muss Dinge geben, die ein Forscher in die Öffentlichkeit bringen kann, ohne dass sie patentiert werden. Das liegt in der Eigenverantwortung des Wissenschaftlers. Aber manche Dinge müssen hier patentiert werden, bevor das in den USA geschieht. Wir - als Volkswirtschaft - müssen auch von irgendetwas leben.
Und Patentierung ist auch Kontrolle. Sie kann sogar ungewollte Kommerzialisierung verhindern. Ich habe mal ein Gen patentieren lassen, bestimmte Veränderungen am TNF-Rezeptor 2. Eine Firma in den USA hat basierend auf diesen Veränderungen begonnen, einen pharmakogenetischen Test zu vertreiben: Er sollte angeblich die Wirkung eines Medikamentes vorhersagen. Da wurden Patienten aufgrund von sehr fragwürdigen Befunden wichtige Therapien versagt, weil Ärzte der Anwendung des Tests vertraut haben. Die Firma hat also den Test aus kommerziellen, nicht aus ethischen Gründen vertrieben. Diesen Test haben wir dann patentieren lassen und das Patent in eine Schublade gelegt. Das kann jetzt keiner mehr vermarkten.
Apropos Pharmakogenetik: Sie sprechen in diversen Interviews von der Medizin von morgen, von molekularer Prophylaxe und von maßgeschneiderten Therapien. Was passiert mit den so genannten Therapieversagern in dieser Vision? Werden für die überhaupt noch Medikamente entwickelt? Werden sie weiter behandelt?
Natürlich müssen Sie die "Therapieversager" - ein schrecklicher Begriff, finde ich - weiter behandeln. Die Pharmakogenetik wird außerdem nicht für jedes Medikament funktionieren. Das geht vielleicht für eins von zehn, eins von 20 Medikamenten. Die große Chance der Genetik liegt darin, vielleicht die Menschen zu erkennen, die ein besonderes Risiko haben und ihnen dabei zu helfen, dass dieses Risiko niemals wahr wird - also Prophylaxe. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Jemandem (noch gesund, aber identifiziert durch einen genetischen Marker), dem mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit vor Vollendung des 50. Lebensjahres ein Herzinfarkt droht, könnte man vielleicht ganz früh, noch bevor klinische Symptome auftreten, einen Lipidsenker geben. In diesem Beispiel investiert man in ein sehr teures Medikament, obwohl der potentielle Patient noch nicht krank ist. Diese Trendwende ist meine Vision: Wir könnten durch Genetik gezielte Vorbeugung betreiben und Menschen, die eine genetische Veranlagung haben, davor schützen, dass das genetische Risiko zur Krankheit wird. Das ist aber ein langer Entwicklungsprozess: Dazu müssen Sie erstens die Krankheitsgene und den Mechanismus aufdecken, zweitens sicher sein, dass die Krankheit durch die Intervention auch wirklich verhindert werden kann und drittens müssen Sie diese Menschen vor Diskriminierung schützen. Und da sind wir noch lange nicht.
Kommt diese Vision der Industrie nicht sehr entgegen? Wenn Medikamente so früh eingesetzt werden, auch bei Menschen, die vielleicht niemals erkrankt wären? Und sind Sie sich so sicher, dass solche Medikamente tatsächlich wirken werden?
Um herauszufinden, ob die vorbeugende Gabe von Wirkstoffen auch tatsächlich vorbeugend wirksam ist, brauchen wir klinische Studien. Derzeit haben wir nur einzelne Bausteine, die noch kein sinnvolles Ganzes ergeben: Viele Wirkstoffe und Präparate für große Krankheiten sind bekannt. Genetische Risikofaktoren werden zunehmend klarer. PopGen untersucht nun die Anwendbarkeit der neu entdeckten genetischen Risikofaktoren in der Bevölkerung. Dann erst kann die Erprobung einer Vorbeugemaßnahme in der Risikopopulation beginnen. Bis zur Etablierung der ersten wirksamen genetischen Prophylaxeverfahren für Bevölkerungserkrankungen vergehen sicher noch 30 bis 50 Jahre. Die Industrie, die das einmal betreiben wird, ist sicher nicht die Pharmaindustrie alten Stils.
Die Pharmakogenetik ist also eigentlich reine Zukunftsmusik?
Ja, und möglicherweise ist PopGen ein Instrument, das diese Zukunftsmusik auch ganz empfindlich stören könnte. Vielleicht stimmen die Voraussetzungen, von denen wir hier bisher ausgehen, gar nicht. Aus den Genanalysen im Labor, an Proben von ausgewählten, meist besonders kranken Patienten können Sie ja noch nicht schließen, ob Prophylaxe, Medikament oder Therapie möglich sind. Mit PopGen können wir die Bedeutung der Forschungsergebnisse für die wirkliche, unselektierte Bevölkerung erst abschätzen. Das ist ja der Hintergrund für das Projekt: Genetische Forschung wurde fast immer zuerst an extrem oder schwer kranken Patienten aus Unikliniken durchgeführt. Jetzt müssen wir schauen, ob die Ergebnisse überhaupt relevant in der Bevölkerung sind. Wenn sich herausstellen sollte, dass bestimmte genetische Faktoren vielleicht in 50 Prozent der schwer kranken Patienten, die zuerst untersucht wurden, relevant sind, aber nur bei dem einen Prozent der "Durchschnittspatienten", kann man die weitere klinische Entwicklung für diesen Befund einstellen, das ist dann uninteressant.
Das Gespräch führte Uta Wagenmann
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