Porträt Lydia Lunch ist seit den guten alten Punktagen eine Meisterin des Zorns. Auch mit 56 feuert die Musikerin und Dichterin ihre Wuttexte in die Welt. Ihr Lieblingsthema: Sex
Lydia Lunch: „Ich interessiere mich für die Rebellion der Lust“
Foto: Ulf Andersen/Getty Images
Lydia Lunch betritt, nein, sie entert die Bühne des Urban-Spree-Areals, eines beliebten Kunst- und Musikzentrums in der Partyzone von Berlin-Friedrichshain. Vor allem junge Touristen schätzen – und überfallen – den Stadtteil, und das gern in Rudeln. In lauen Sommernächten, wenn die Sonne ganz pittoresk über der Spree untergeht, entfaltet sich der abgerissene Charme des Ortes besonders gut. Das Bier günstig, die Graffitis bunt, überall Musik und postindustrielle Architektur: alles so hübsch punkig hier!
Lydia Lunch starrt unter ihrem schwarzen Pony hervor auf das Publikum. Man könnte auch sagen: Sie blickt auf die vorderen Reihen herab. Im Trockeneisnebel gestikuliert sie mit roten Fingernägeln, während sie den Partymenschen
ymenschen Sätze entgegenschleudert, die sich etwa so übersetzen lassen: „Narkotika, Psychotropika und Ecstasy gleiten mir durch die Finger. Noch immer suche ich nach der Droge. Ich muss ein Jahr im sexuellen Koma verbringen, um mit meinen Problemen fertigzuwerden. Crack habe ich fünfmal ausprobiert und bin davon nicht high geworden.“Mit 56 Jahren ist Lunch noch immer eine starke Stimme des New Yorker Undergrounds. Eines Undergrounds, der, wie die Künstlerin, deutlich in die Jahre gekommen ist. Ende der 1970er erblühte in New York, insbesondere in der Lower East Side, eine Bewegung, die sich No Wave nannte. Eng verwandt mit den Haltungen des Punk, verstanden sich die No-Wave-Künstler als radikale Gegenspieler des kommerziellen Mainstreams.Der Name No Wave reagierte auf die von Musikindustrie und Radiosendern ins Spiel gebrachte Genrebezeichnung New Wave. Das Neinsagen war und ist ein wesentliches Prinzip des No Wave, und so trägt eines der Schlüsselalben aus jener Zeit und Szene den Titel No New York. Brian Eno, einst Mitbegründer der Erfolgsband Roxy Music, brachte die Kompilation 1978 heraus. Darauf zu hören sind Avantgarde-Stücke von DNA, Mars, James Chance and the Contortions – und die Band Teenage Jesus and the Jerks, Gesang und Gitarre: Lydia Lunch.Nie war Lunch „nur“ Musikerin. Auch in den Feldern Visual Art und Spoken Word war und ist sie unterwegs, als Aggressionslyrikerin, die ihre Textsalven höchst zornig abfeuert, wo immer man ihr zuhört. Sie selbst spricht von ihren „37 Jahren auf der Bühne“. In all der Zeit hatte sie – ganz dem Neinsager-Prinzip verhaftet – nie ein Management an ihrer Seite, geschweige denn eine PR-Agentur. Es gab Phasen, da war sie obdachlos, weil sich im Underground nun mal nur schwerlich Geld verdienen lässt.„Wenn man es fürs Geld macht, ist es keine Kunst, sondern Kommerz“: So bringt Lunch ihre Haltung auch heute noch auf den Punkt. Künstlerin zu werden sei keine Berufswahl wie jede andere, sondern eine schiere Notwendigkeit, „wenn einem das Blut kocht“. Dass die Disziplin der Spoken-Word-Performance langsam ausstirbt, hindert sie nicht daran, diese Kunstform als „die letzte verbliebene Kriegshure“ weiterhin zu pflegen.Fanpost mit KörpersäftenGeboren wurde sie 1959 als Lydia Anne Koch in Rochester im Nordwesten des Bundesstaats New York. Zu ihrem Künstlerpseudonym „Lunch“ („Mittagessen“) kam sie, weil sie in den wilden Jahren in der Lower East Side in New York City öfters Essen für befreundete und ebenso verarmte Punk-Musiker organisierte, womöglich auch mal auf nicht ganz geraden Wegen.Aktuell ist Lunch dabei, ihre „37 Jahre auf der Bühne“ zu etwas Größerem zusammenzufügen – zu einer Gesamtschau ihres No-Wave-Lebens. Sie sei im Gespräch mit verschiedenen amerikanischen Universitäten und Kultureinrichtungen, sagt sie. Ihr privates Archiv besteht demnach aus mehr als 1.500 Büchern, aus Postern und Tagebüchern, unveröffentlichten Livemitschnitten, Fotos und Fanpost. „Da ist alles enthalten, was ich je gemacht habe“, sagt Lunch nach ihrem Konzert, bei einem Glas Rotwein im Michelberger Hotel an der Warschauer Straße in Friedrichshain. „Ich mache seit 1990 Fotos. Die müssen alle eingescannt werden. Ich besitze Briefe von Typen, die ich nie kennengelernt habe – Briefe mit Körperflüssigkeiten. Ich will, dass das alles öffentlich zugänglich gemacht wird.“Dieses Selbstbewusstsein ist durchaus angemessen. Zwar mag das breite Publikum mit dem Namen Lydia Lunch nicht vertraut sein, doch hatte und hat die Frau dahinter ihre Finger bei etlichen Projekten und Kollaborationen – auch mit größeren Namen – im Spiel. Sie kuratierte das Werk des US-Fotografen und -Filmemachers Richard Kern und trat selbst in mehreren Underground-Streifen auf, etwa in Black Box, 1978 vom New Yorker Film-Duo Beth B und Scott B gedreht. Musikalisch arbeitete sie mit den Superstars des No Wave, mit der Band Sonic Youth, zusammen, außerdem mit Henry Rollins und Nick Cave.Placeholder infobox-1Dass sie selbst nie so richtig berühmt wurde, folglich auch nie wirklich Geld hatte, lässt Lunch heute gallige Sätze wie diese sagen: „Viele, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren damals kein bisschen prominenter als ich. Sie wurden das erst später, weil sie im Gegensatz zu mir 100-mal die gleiche Platte aufnahmen.“Die Verachtung all dessen, was unter Kommerzverdacht fällt, ist bei Lunch ungebrochen. „Wir leben in einer Zeit, in der Leute, die überhaupt nichts tun oder nicht Interessantes zu sagen haben, prominent sind. Ich hoffe, dass die Menschen sich irgendwann dagegen auflehnen, weil sie genug haben von all dem inhaltsleeren, kulturlosen Schwachsinn, bei dem es nur darum geht, wie viel jemand für sein Kleid oder seine Schönheits-OP bezahlt hat.“Vorerst hätten „die Konzerne“ gewonnen, glaubt Lunch. „Dein Wert bemisst sich nach dem, was du verdienst, nicht nach dem, was du machst oder sagst. Die Stylisten von Madonna und Lady Gaga sind kulturelle Vampire, die der Subkultur die Ideen aussaugen und sie dann zum Mainstream erheben. Kompletter Betrug an allen Fronten! Das sind meine Feinde“, schimpft sie. Im Grunde klingt das nach Komplettverbitterung. Aber es gibt ja noch die jungen Leute: „Wir können nur hoffen, dass die nächste Generation gegen diese Welt der Konzerne aufbegehren wird“, sagt Lunch in einem etwas leiseren Moment.Es gibt sogar jüngere Künstler, die sie wirklich bewundert. Etwa den chilenisch-amerikanischen Musiker Nicolas Jaar. Dieser kontaktierte Lunch als Fan und fragte sie, ob er einen Track von Lunchs Album Conspiracy of Women remixen und auf seinem eigenen, auf elektronische Musik spezialisierten Label Other People neu herausbringen dürfe. Ironischerweise stammt die genannte Lunch-Platte von 1990 – just aus dem Geburtsjahr des nachgewachsenen Lunch-Fans und Produzenten Jaar. Lunch weiß die Anerkennung des Mannes, der ihr Sohn sein könnte, zu schätzen, ja sie schwärmt von ihm: „Er tut etwas, um andere zu unterstützen. Er ist der Ausgangspunkt einer kulturellen Revolution von Leuten seiner Generation und der Grund, warum ich nicht die Hoffnung verliere.“Bush trieb sie nach BarcelonaAls 2004 George W. Bush zum zweiten Mal zum Präsidenten der USA gewählt wurde, war Lunch allerdings doch kurz davor, die Hoffnung zu verlieren. Sie verließ das Land und kehrte damit eben auch New York den Rücken, dem Ort, der sie geprägt hat – so wie sie den Ort mitprägte, indem sie den Mythos des New York Underground kräftig düngte. „Die Wiederwahl von Bush war einfach zu viel für mich.“ Seither lebt sie hauptsächlich in Barcelona.Die zweitgrößte Stadt Spaniens ist für Lunch nun ihre Anlaufstelle, von dort aus bricht sie immer wieder für einige Wochen oder Monate auf, um anderswo bei Festivals aufzutreten oder mit befreundeten Künstlern und Musikern an Projekten zu arbeiten. Berlin steht dabei öfters auf ihrem Reiseplan. Vergangenes Jahr steuerte sie hier in einem Studio ihre spoken words, ihren Sprechgesang, zum Debüt-Album der Band Automat bei, bei der etwa der Einstürzende-Neubauten-Musiker Jochen Arbeit mitspielt, auch einer aus den No-Wave-Jahrgängen. Man scheint da zusammenzuhalten.Lunchs eigene aktuelle Band trägt den sinnhaften Namen Retrovirus. Im Mai erschien das jüngste Retrovirus-Album Urge to Kill, als Gegenkommerz-Projekt natürlich auf Lunchs eigenem Label, das sie Widowspeak („Witwensprache“) genannt hat. Die neun Stücke auf Urge to Kill sind geprägt von heulenden Gitarren und von Lunchs kratzigem Gesang. Lock Your Door ist textlich zum Beispiel eine nach Rache dürstende Trennungssuada. „Meine Sache ist das Schreiben. Die Musik benutze ich nur als eine Art Maschinengewehr, um die Worte rüberzubringen“, erklärt Lunch.Und das Schreiben will sie ausbauen, es soll künftig eine noch größere Rolle spielen. In Frankreich wird gerade eine Anthologie ihrer Gedichte vorbereitet, die nächstes Jahr unter dem Titel Bloodworks herauskommen soll. Schon 1997 erschienen in einem kleinen Brooklyner Verlag Lunchs nur leicht fiktionalisierte Memoiren unter dem Titel Paradoxia: a Predator’s Diary, was übersetzt so viel heißt wie: Paradoxien: Tagebuch eines Raubtiers. Sie berichtet darin detailliert über ihren Drogenkonsum, den Missbrauch durch ihren Vater sowie ihren Hang zu sexueller Dominanz.Am „Sex-Strang“ will sie nun weitererzählen. Aktuell sitze sie an einem „dicken Wälzer über Sex“, verrät sie. „Ich interessiere mich für die Rebellion der Lust. Ich habe immer alle an meinem Kummer und meinen Tragödien teilhaben lassen, aber privat bin ich sehr optimistisch. Wenn man sein Trauma einmal überwunden hat, dann aalt man sich geradezu in persönlicher Lust. Man könnte auch von einer göttlichen Maßlosigkeit sprechen.“ Für das kommende Buch habe sie „eine Menge recherchiert“, sagt Lunch, aber inhaltliche Details mag sie noch nicht nennen. „Ich glaube, dass es ein großes Kunstwerk wird und dass es in die Literatur eingehen sollte“, sagt sie ganz unironisch. „Sex wird oft so dermaßen schlecht dargestellt – 50 Shades of what?“So ernst ist es ihr mit der Literatur, dass Lunch mittlerweile Schreibworkshops an der Jack Kerouac School of Disembodied Poetics in Boulder, Colorado, gibt. Die Workshops richten sich explizit an Frauen, an Schriftstellerinnen, die sich mehr Mut für ihre Lesungen und Performances wünschen. „Frauen sollten Geschichten schreiben, und wenn es nur dazu dient, ihre Dämonen auszutreiben“, sagt Lunch. „Ich weiß, dass ich einzelne Frauen beeinflusst habe. Aber ich sehe nicht, dass sich generell etwas geändert hätte. Hätte ich wirklich viel bewirkt, würden Frauen sich anders verhalten, sie würden an Straßenecken stehen, schimpfen, schreien und flüstern.“Wieder klingt es etwas verbittert. Aber dann macht die Optimistin in Lydia Lunch noch einen Scherz: „Ich sage immer: ,Gebt mir nicht die Schuld für Courtney Love, die Frau ist eine unabwendbare Katastrophe!‘“Placeholder authorbio-1
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