Vermutlich erträgt Homo sapiens die Welt, so wie sie ist, nur deshalb, weil die Spezies dankbar vom Überlebensmechanismus der Verdrängung Gebrauch macht. Denn es ist ja wahr: „Wir brandschatzten, erpreßten sie, ließen sie in Reih und Glied aufmarschieren, vergifteten sie tagtäglich, ließen sie Dioxin fressen, müllten sie mit Bergen von Abfall zu und zwangen sie, zu uns zu kommen und die Rechnung nicht ohne den Wirt zu machen.“
Es spricht hier die Stimme der Camorra, die Struktur des Organisierten Verbrechens, die Neapel fest im Griff hat. Und über andere Strukturen überall in der Welt mitmischt, die „internationalen Banker und die mächtigsten Industriellen“, die „wir“ „ohne Ende demütigen mußten“. Denn „je eleganter und distinguierter die Herren waren, um so tiefer mußten sie durch die Scheiße“. Wir hören hier nicht das Delirieren eines Größenwahnsinnigen, sondern eine unschöne, aber genaue Beschreibung dessen, was Organisierte Kriminalität bedeuten kann.
Aber wenn man nicht mehr verdrängen kann, dann kann man immer noch erzählen. Francesco de Filippo, Journalist und Sachbuchautor aus Neapel, hat das jetzt in seinem Erstlingsroman Gezeichnet getan. Keine Angst, hier handelt es sich nicht um einen konjunkturbedingten Aufguss von Roberto Savianos Camorra-Bestsellern, sondern um ein kluges literarisches Konzept. Denn de Filippo hat sich von der Illusion verabschiedet, der Hölle, die er uns zeigen will, mit den klassischen Mitteln der Reportage oder eines artig geplotteten Krimis zu begegnen.
Die Handlung – junger Mann wird zum Camorrista, zeigt Reue, kann aber nicht kündigen –, ist keine Handlung im engen Sinn. Plots und Subplots gibt es nicht. Dafür aber jede Menge von Höllenbreughel´schen Szenarien, Vignetten aus Blut und Schmerz, und widerwärtige Phantasmagorien. In der Verdichtung des Irrsinns kommt de Filippo, absichtlich oder nicht, dem ungeheuren Roman Ciao Papá des Argentiniers Juan Damonte nahe, der in der bildmächtigen und verzweifelten Raserei über die Unentflechtbarkeit von Organisiertem Verbrechen (bei Damonte während der argentinischen Militärdiktatur) und Politik das Realistische ins Surreale gedreht hatte. So, wie de Filippo es hier auch tut, um wirklich noch Schocks setzen zu können, wo doch sämtlich „Schock-Reize“ längst durch pseudo-realistische, belanglose Metzelromane (und andere mediale Aufbereitungen von Gemetzel) zur schieren Bespaßung verschossen worden sind.
Leider teilt de Filippos Buch in der deutschen Fassung das Schicksal mit Damontes Roman: Die Übersetzung, beziehungsweise die Lektoratsentscheidungen sind zumindest problematisch. Es besteht nicht der geringste Grund, aus dem allgemeinverständlichen „Camorrista“ einen „Camorrist“ zu machen als sei´s ein Traktorist aus alten Zeiten. Zudem funktioniert die Eindeutschung des „skaz“, also die simulierte Mündlichkeit und der künstlich vulgärsprachliche Duktus, die der Roman durch die Erzählstimme der Hauptfigur Gennarino Sorrentino hat, nicht immer, der zwar einfache Wörter wie „Wiski“ nicht hinbekommt, aber „Bonbonniere“ ohne Probleme beherrscht. Solche Kleinigkeiten sind zwar nur Irritationen, die aber deswegen betrüblich sind, weil sie den vollen Blick auf einen sehr kühnes und sehr beeindruckendes Buch verbauen könnten. Das wäre unendlich schade.
Gezeichnet (Sfregio, 2006) Francesco de Filippo, Roman. Deutsch von Moshe Kahn. Lübbe, Bergisch-Gladbach 2009, 283 S., 19,95
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