„Wir bleiben Vorreiter beim Klimaschutz“, verkünden Union und SPD vollmundig in ihrem Koalitionsvertrag. Das ist nicht weniger als eine Frechheit, wenn man sich vor Augen führt, was die potenzielle Große Koalition plant: Sie wird nach wie vor den Ausstieg aus den klimaschädlichsten Kohlekraftwerken verzögern, weiter auf Massentierhaltung und industrielle Landwirtschaft setzen, strengere Emissionsstandards für die Autoindustrie verhindern und gleichzeitig mit unveränderter Subventionierung fossiler Verbrennungsmotoren den Umstieg auf emissionsarme Mobilität erschweren. Da hilft zum Verständnis dieser wohl rundheraus ironisch gemeinten Floskel nur, mal nachzulesen, wo die Große Koalition Deutschland noch als Vorreiter sieht: beim Tierwohl und bei einer fairen Handelspolitik, insbesondere mit Afrika.
Bereits in den vergangenen Legislaturperioden hat die deutsche Bundesregierung – und damit auch das schwarz-rote Bündnis der letzten vier Jahre – durch die oben beschriebenen Maßnahmen systematisch Fortschritte im nationalen und internationalen Klimaschutz verhindert. Im vorgelegten Koalitionsvertrag planen Union und SPD nun unter bewusst irreführenden Überschriften wie „Aufbruch“ und der Ankündigung einer „neuen Dynamik für Deutschland“ die Fortsetzung ihres fatalen und rückschrittlichen Programms.
So ist im Bereich Klimaschutz weniger von Interesse, was im Koalitionsvertrag drinsteht – das ist nicht viel. Aufschlussreicher ist, was – wieder einmal – nicht darin aufgeführt ist. Nur implizit benannt ist etwa die Aufgabe des Klimaziels bis 2020. Dass sie sich mit dieser lästigen Verpflichtung nicht länger herumärgern wollen, machten Union und SPD entgegen ihrer Wahlversprechen bereits am ersten Sondierungstag klar. Auch der wenige Tage später veröffentlichte Berichtsentwurf des Weltklimarats IPCC zum 1,5 Grad-Ziel hatte keinen weiteren Einfluss auf diese Entscheidung. Darin warnen die Klimawissenschaftler eindringlich: Nur noch mit sofortigen und größten Anstrengungen ist die im Pariser Klimaabkommen formulierte Grenze für die globale Erwärmung zu erreichen.
De-facto-Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen
Das bedeutet nichts anderes als dass eine Vertagung der Klimaschutzbemühungen gleichbedeutend ist mit dem Ausstieg aus dem Weltklimavertrag. Es steht Deutschland also schlecht an, mit dem Finger auf die USA zu zeigen. Denn an Zynismus angesichts der globalen Umweltprobleme nehmen sich Angela Merkel und Donald Trump nicht viel. Beide ignorieren die immer präziseren Erkenntnisse der Klimawissenschaft über den Stand und die Folgen der globalen Erwärmung sowie die daraus folgenden notwendigen politischen Maßnahmen.
Der Koalitionsvertrag suggeriert, dass zwar das Klimaziel 2020 verfehlt wird – und das nicht zu knapp, aber bis 2030 alles wieder aufgeholt würde. Doch das erscheint nach den aufgegebenen Zielvorgaben zum Klimaschutz von 2005 und 2020 wenig glaubhaft. Zumal es ja nicht leichter wird, das Klimaziel 2030 zu erreichen, wenn man 2020 von einer schlechteren Ausgangsposition startet.
Selbst wenn es der Bundesregierung tatsächlich gelingen sollte, die Emissionen wie geplant bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren: Für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens sind diese Ziele nicht ausreichend. Sie wurden bereits 2010 formuliert und nicht an den Weltklimavertrag von 2015 angepasst. Dieser offensichtliche Widerspruch wird weder im Koalitionsvertrag noch an anderer Stelle von den Parteien, die bald regieren könnten, problematisiert. Um die globale Erwärmung, dem Pariser Abkommen entsprechend, auf 1,5 Grad zu begrenzen, müsste Deutschland seine Treibhausgasemissionen noch vor 2035 auf null absenken – zu diesem Ergebnis kommt eine 2016 erschienene Studie des New Climate Institute.
Gegenüber der von der Klimawissenschaft postulierten Dringlichkeit wirken die von der Großen Koalition in spe anvisierten Maßnahmen wie ein schlechter Witz. Zwar soll der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt werden – von 55 bis 60 Prozent Anteil an der Stromerzeugung auf 65 Prozent. Doch solange nicht gleichzeitig die klimaschädlichsten Kohlekraftwerke vom Netz gehen, wird der Zubau von Solar- und Windkraftwerken genauso viel Emissionsreduktion bringen wie Deutschland sie in den letzten acht Jahren erreicht hat: null Komma null Prozent. Dieses Phänomen ist seit einigen Jahren als „Energiewende-Paradox“ bekannt: Ein rasanter Ausbau erneuerbarer Energien führt eben nicht zu erfolgreichem Klimaschutz, wenn Deutschland weiter Braunkohle-Weltmeister bleibt.
Anstatt den notwendigen und von namhaften KlimawissenschaftlerInnen immer drängender öffentlich eingeforderten Kohleausstieg zu beschließen, setzen Union und SPD auf die altbewährte Hinhaltetaktik: Sie wollen eine Kommission gründen. Bis die Vorschläge eines solchen Gremiums in Gesetzesform gegossen sind, könnten jedoch leicht zwei Jahre vergehen. Die klaffende Lücke zur Erreichung des Klimaziels 2020 wäre dann bis zum Stichtag wohl kaum kleiner geworden.
Vollständig ausgespart werden im Koalitionsvertrag die Beiträge des Transport- und Landwirtschaftssektors zur globalen Erwärmung. Klimaschädliche Subventionen fossiler Energien im Verkehrsbereich wie die Förderung von Dieselfahrzeugen und die Pendlerpauschale werden nicht beendet. Ein Ausstiegsdatum für Verbrennungsmotoren schreibt der Koalitionsvertrag ebenfalls nicht fest. Beides wäre aber notwendig, um eine zügige Verkehrswende hin zu einer emissionsarmen Mobilität zu erreichen. Der Verkehrssektor ist der einzige Bereich, in dem der Treibhausgasausstoß seit 1990, also seit fast dreißig Jahren, überhaupt nicht gesunken ist. In der Landwirtschaft hält Schwarz-Rot trotz einzelner kleiner Verbesserungen nach wie vor am Modell massenhafter, exportorientierter Billigproduktion fest – mit all ihren Folgen für Tierleid, Landschaften und das Klima.
Effektiver Klimaschutz: Nicht mehrheitsfähig?
Kritiker und Kritikerinnen einer ambitionierteren Klimapolitik weisen auf die Mehrheitsverhältnisse in der Parteienlandschaft hin: Die grün-bewegte Wählerschaft würde eben nur eine Minderheit ausmachen. Die Mehrheit hätte sich für eine andere Politik ausgesprochen. Doch dies ist ein Trugschluss: Konservative, Sozialdemokraten oder Liberale, sie alle hätten Grund genug, im Sinne ihres Kernanliegens beim Klimaschutz deutlich engagierter zur Tat zu schreiten. Mit einem sich verschärfenden Klimawandel ist jeweils auch der Kern ihres politischen Projekts bedroht – sei es die Bewahrung des Status Quo (Konservativismus), die soziale Gerechtigkeit (Sozialdemokratie) oder die freie Entfaltung des Individuums (Liberalismus).
Auch in Deutschland führt die globale Erwärmung zu menschlichem Leid und hohen volkswirtschaftlichen Kosten: Die Häufigkeit von Extremwetterereignissen – seien es Hitzesommer oder Jahrhundertfluten – steigt bereits heute rapide. Zudem haben desaströse Klimafolgen andernorts das Potenzial, Ernährungskrisen, soziale Ungerechtigkeit und lokale bis internationale Konflikte zu befördern. Politische Instabilität, der Aufstieg populistischer Regierungen und massive Fluchtbewegungen können Folgen sein, die auch auf die bundesrepublikanische Gesellschaft rückwirken. Eine Regierung, die diese Zusammenhänge in ihrem Handeln nicht angemessen würdigt und Ursachen bekämpft, scheitert schlussendlich am Auftrag der Wähler und Wählerinnen, für ihre Interessen einzutreten.
Nach über zwanzig Jahren weitgehender Leugnung der Dringlichkeit absoluter Emissionsreduktionen muss es aber jetzt eine Wende geben. Wir können uns die systematische Aufschiebementalität der Politik nicht mehr leisten. Durch den Beschluss der schnellen Abschaltung der klimaschädlichsten Kohlekraftwerke vor 2020 sowie weiterer konkreter Umsetzungsmaßnahmen muss – bei einer Neuauflage der Großen Koalition – bisher hohlen, inhaltsleeren Phrasen des Koalitionsvertrags noch in diesem Jahr Substanz gegeben werden.
Ohne den entsprechenden Druck aus der Bevölkerung ist eine derartige Korrektur des Regierungsprogramms von CDU, CSU und SPD nicht zu erwarten. Deshalb steht die kritische Zivilgesellschaft weiterhin in der Pflicht. Sie muss den notwendigen Wandel immer wieder auf die Tagesordnung heben, wenn die Politik ihn verschleppt. Die nächsten Jahre sind entscheidend, um eine Klimakrise zu verhindern. Die zahlreichen und immer größer werdenden Proteste der Klimabewegung – von der Menschenkette in der Lausitz über die roten Linien im Hambacher Wald und „Ende Gelände“ bis zur bisher größten Anti-Kohle-Demo in Deutschland anlässlich des Weltklimagipfels in Bonn im November – haben bereits wichtige Fortschritte in der politischen Debatte bewirkt. Darauf können wir aufbauen. Packen wir es an.
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