Die beiden großen "Siege" Amerikas nach dem 11. September zeigen allmählich ihr wahres Gesicht. In Afghanistan hat das Regime von Hamid Karzai praktisch weder Autorität noch Geld und würde ohne Protektion der USA sofort zusammenbrechen. Al Qaida wurde nicht vernichtet, und die Taleban tauchen wieder auf. Die Lage von Frauen und Kindern bleibt verzweifelt. Die einzige Frau in Karzai´s Kabinett, die mutige Ärztin Sima Samar, wurde aus der Regierung herausgedrängt und muss trotz Leibgarde um ihr Leben fürchten. Amerikas "Freunde", die Warlords, die von Washington Millionen Dollar in die Hand bekamen, um für einen Schein von Stabilität zu sorgen, morden, vergewaltigen und missbrauchen Kinder, ohne je zur Rechenschaft gezogen zu werden.
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"Wir betreten eine Kampfzone, sobald wir diese Militärbasis verlassen," sagte mir ein Offizier des US-Luftwaffenstützpunktes Bagram. "Wir werden jeden Tag beschossen, sogar mehrmals am Tag." Über seinen angeblichen Auftrag, das Volk zu befreien und zu beschützen, konnte selbst er nur noch lachen.Amerikanische Truppen sieht man in den Städten Afghanistans selten. Wenn überhaupt, dann eskortieren sie mit ihren schwer bewaffneten Fahrzeugen die gepanzerten und verdunkelten Geländewagen von US-Repräsentanten, die mit hoher Geschwindigkeit vorbeirasen. Die Amerikaner sind so nervös, dass sie vor wenigen Wochen im Zentrum von Kabul - aus Versehen, wie es anschließend hieß - vier afghanische Regierungssoldaten erschossen. Kein Wunder, dass der Protest gegen ihre Präsenz weiter zunimmt.Am Tag, als ich Kabul verließ, explodierte eine Autobombe an der Zufahrtstraße zum Flughafen. Vier deutsche Soldaten der internationalen Schutztruppe ISAF wurden getötet. Ihr Bus flog in die Luft, Leichenteile waren am Straßenrand zu sehen. Als britische Soldaten anschließend den Tatort sicherten, wurden sie von Passanten argwöhnisch beobachtet. Der Hass auf die Besatzer war deutlich spürbar. Ähnlich ist es im Irak, dem Schauplatz des zweiten "großen Sieges". Dort werden die sogenannten Terroristen, die sich mit Waffengewalt gegen die US-Besatzung wehren, von der Mehrheit der Iraker unterstützt, die sich entgegen aller Propaganda eben nicht als Befreite fühlen. Vergleiche mit Vietnam sind in der Vergangenheit so häufig gezogen worden, dass ich zögere, erneut die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergleichen. Aber die Ähnlichkeiten fallen ins Auge. Wenn Amerikaner erneut davon reden, dass sie "in einen Sumpf hineingezogen werden", dann ist das wieder die typische, hollywood-taugliche Version der Geschichte: Wir sind nicht die Invasoren, sondern die Opfer. Seit die Statue von Saddam Hussein vor drei Monaten gestürzt wurde, sind US-Soldaten immer wieder in klassischer Guerilla-Taktik angegriffen und getötet geworden. Ähnlich wie damals die Vietnamesen nur als Kommunisten wahrgenommen wurden, so sprechen die Amerikaner heute nur von Saddam-Getreuen und Baath-Kämpfern. Sie wollen offenbar nicht einsehen, dass es ihr eigenes brutales Besatzungsverhalten ist, das den Widerstand weiter anstachelt. Welche Reaktion erwarten die Amerikaner, wenn sie, wie in Falluja, in eine demonstrierende Menge schießen, wenn sie mit ihren Panzerkanonen eine Familie von Schafhirten töten? Damals in Vietnam waren es Bauern und Kinder, die auf Reisfeldern niedergemäht wurden.Am 12. Juni haben die US-Streitkräfte nördlich von Bagdad ein angebliches Terroristen-Camp angegriffen und nach eigenen Angaben mehr als 100 Iraker getötet. Immer wieder dieselbe Rechtfertigung: Terrorismus und mögliche Verbindungen zu al Qaida. Mehr als 400 Gefangene wurden nach dieser Aktion in ein am Flughafen von Bagdad gelegenes Camp gebracht, das man nur als Konzentrationslager bezeichnen kann. Einige werden nach Guantanamo ausgeflogen, andere, auch das ist schon geschehen, verschwinden für immer. Wer erinnert sich nicht an die mörderische Praxis des chilenischen Diktators Pinochet?"Search and destroy", suchen und vernichten - die aus Vietnam bekannte Taktik der verbrannten Erde ist wieder da. Im Südosten Afghanistans steht das Dorf Niazi Qala nicht mehr. Am 30. Dezember 2001 sind US-Luftlandetruppen in das Dorf eingedrungen und haben - wie eine Untersuchung der Vereinten Nationen festgestellt hat - 52 Menschen, darunter 25 Kinder, getötet. Das Ziel der Amerikaner war unter anderem eine Hochzeitsfeier. Wie überlebende Einwohner später berichteten, sind Frauen und Kinder aus dem beschossenen Gebäude gerannt, um Schutz zu suchen. Selbst sie wurden erschossen, als sie um ihr Leben liefen. Nach zwei Stunden hatten die Angreifer ihren "Job" erledigt. Wie vor 35 Jahren beim Massaker von My Lai rechtfertigte das Pentagon den Angriff mit dem lapidaren Hinweis: "Wir hatten das Dorf als militärisches Ziel identifiziert."Über solche Angriffe auf Zivilisten zu berichten, ist im Westen ein journalistisches Tabu. Das machen Monster, aber nicht "wir". Die Wahrheit sieht anders aus. Bereits ein Jahr nach dem Golfkrieg von 1991 hatte eine umfassende Studie des in London ansässigen "Medical Education Trust" ergeben, dass mehr als 200.000 Iraker im und unmittelbar nach dem Krieg gestorben waren, vor allem wegen massiver Angriffe auf die zivile Infrastruktur. Kürzlich hat der sogenannte "Iraq Body Count", eine Initiative britischer und amerikanischer Wissenschaftler, die Zahl der in diesem Jahr getöteten Zivilisten auf 10.000 geschätzt. Allein bei den Luftangriffen auf Bagdad seien 2.356 Zivilisten umgekommen. Dass der Afghanistan-Krieg der Amerikaner bis zu 20.000 Zivilisten das Leben gekostet haben könnte, hat der britische Journalist Jonathan Steele nach Auswertung aller verfügbaren Informationen errechnet.Dieser "verborgene" Effekt ist nicht neu. In Vietnam flog die US-Luftwaffe Tausende von Einsätzen, um das berüchtigte "Agent Orange" über Wälder und Felder zu versprühen. Der Einsatz dieses Pflanzenvernichtungsmittels, das den Amerikanern freie Sicht verschaffen sollte, war zugleich der größte Einsatz einer chemischen Massenvernichtungswaffe, den es jemals gegeben hat. Denn es enthielt Dioxin, eines der tödlichsten bekannten Gifte. Zahllose Menschen starben an den Folgen von "Agent Orange", und noch heute werden in Vietnam Kinder mit erheblichen Erbschäden geboren.Was damals "Agent Orange" war, ist heute Munition mit abgereichertem Uran. Im Golfkrieg von 1991 wurden 350 Tonnen dieses tödlichen Stoffs eingesetzt. Opfer waren vor allem Zivilisten im südlichen Irak. In diesem Jahr sollen bereits 2.000 Tonnen verwendet worden sein. In einer bemerkenswerten Serie von Reportagen für das US-Magazin Christian Science Monitor hat Scott Petersen beschrieben, wie in den Straßen von Bagdad Kinder mit Resten kontaminierter Munition spielen. Viel zu spät wurden Schilder aufgestellt, die vor den Gefahren warnen. Das kanadische "Uranium Medical Research Centre" hat den Einsatz von abgereichertem Uran in Afghanistan untersucht und beschreibt die Ergebnisse als "schockierend". "Ohne Ausnahme", so wird berichtet, "sind die Menschen dort, wo Uran-Munition verwendet wurde, krank. Ein erheblicher Teil der Zivilbevölkerung hat Symptome, die sich auf Strahlenschäden zurückführen lassen."Vor drei Jahren habe ich in Basra krebskranke Kinder besucht, die sterben mussten, weil ihnen die notwendige medizinische Versorgung versagt blieb. Tony Blair gehörte damals zu den vehementesten Verfechtern des Embargos. In der Lobby meines Kabuler Hotels habe ich nun auf CNN wieder eine Szene aus Basra gesehen: In einer frisch gestrichenen Schule hält Tony Blair mit breitem Grinsen ein Kind auf dem Arm und zeigt der Welt, dass alles in Ordnung ist.Dieser Text ist am 23. Juni in der britischen Zeitschrift New Statesman erschienen. Übersetzung: Hans Thie
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