FREITAG: Sie haben mit ihrer Bewegung »Gusch Schalom« (»Friedensblock«) in der vergangenen Woche eine Demonstration in Abu Dis veranstaltet, die im Verhältnis zu der Massenveranstaltung der Rechten kaum wahrgenommen wurde. Wo ist die israelische Linke in so kritischen Zeiten, wie diesen?
URI AVNERY: Die beiden Demonstrationen sind nicht zu vergleichen. Am Sonntag waren nur Siedler dort. Es ist einfach, 150- oder 200.000 Demonstranten zusammenzukriegen, wenn man sie nur in Autobussen, die von Siedlung zu Siedlung fahren, einsammeln muss. Das kann nur auf jemand Eindruck machen, der keine Ahnung hat. Unsere Demo war eine Warnung an Barak, die sagt: Die radikale Friedensbewegung wird den Frieden nur unter der Bedingung unterstützen, dass dieser für beide Seiten annehmbar ist. Unsere Demo war provokativ und blieb deshalb klein.
Mit kleinen Provokationen werden Sie nicht viel bewegen, wenn es darauf ankommt.
Nein. Ob die Friedensbewegung insgesamt noch funktioniert, wird sich nächste Woche zeigen, wenn eine Gegendemonstration geplant ist. Ein gemeinsamer Stab aller Friedensbewegungen berät gerade darüber. Für uns ist es schwerer, weil wir keine Jeschiwa-Schulen haben, die auf Befehl des Rabbiners geschlossen zu den Demonstrationen kommen. Aber im Grunde hat die Skepsis ihre Berechtigung: Die Friedensbewegung ist eingeschlafen. Das ist wie ein Muskel, den man lange Zeit nicht angespannt hat. Das rächt sich jetzt.
Wenn man die jüngsten Koalitionsstreitereien verfolgt hat, dann entsteht der Eindruck, dass Barak den Frieden will, aber keine Rückendeckung dafür hat. Ist das israelische Volk reif für den Frieden und vor allem für Kompromisse in Jerusalem?
Das Volk in Israel ist bereit zu einem großen Kompromiss in Jerusalem. Ich glaube, dass sich nur wenige aufregen würden, wenn man auf Ost-Jerusalem verzichtete. Auch Leute, die im Grunde sehr rechts sind, hätten damit kein Problem. Sie müssen sich fragen, was die Leute wollen: Einen Staat Israel mit sowenig Arabern wie möglich. Wenn man also die palästinensischen Regionen in Jerusalem abgibt, würde es sie nicht aufregen. Problematisch ist die Frage, was aus der Altstadt wird. Darüber könnte man aber vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt verhandeln. Es wird niemals eine Lösung geben, bei der die palästinensische Seite keine Souveränität über Ost-Jerusalem bekommt. Das könnte kein palästinensischer Führer seinem Volk zumuten.
Wäre Jerusalem das einzige Problem, das mit einer endgültigen Lösung warten müsste?
Es ist denkbar, dass es einen Vertrag geben wird, der im Grunde sehr wenig regelt. Ein Vertrag, der die Staatsdeklaration und die Anerkennung durch Israel möglich macht, der aber die Hauptfragen wie Jerusalem, die Flüchtlinge und Siedler zum Gegenstand weiterer Verhandlungen macht. Ein neues Interimabkommen also. Das wäre immerhin besser als Blutvergießen, und es wäre vermutlich auch für Barak und Arafat von Vorteil. Beide könnten sagen: Ich habe nichts aufgegeben.
Was wird mit den Flüchtlingen? Man bekommt den Eindruck, dies sei letztlich nur noch eine Frage des Geldes, der Höhe von Entschädigungszahlungen.
Das ist völlig falsch. Es geht hier um 3,7 Millionen Menschen. Um lebende Menschen, eine Volksmasse, die keiner ignorieren kann. Der einzige Wunsch aller dieser Menschen ist es, dahin zurückzugehen, wo sie herkommen, in ihr Land. Das zu unterschätzen, ist ein gewaltiger Fehler. Kein palästinensischer Führer kann es sich leisten, das mit ein paar Groschen bewältigen zu wollen.
15 Milliarden Dollar sind nicht so wenig.
Auf vier Millionen Menschen verteilt schon. Aber der springende Punkt ist, wie man zu einer Lösung kommt, die vor allem die betroffenen Flüchtlinge akzeptieren können. Es ist mit Abstand das schwerste Problem im israelisch-palästinensischen Konflikt und Kernpunkt in der Geschichte seit über 50 Jahren. Dafür eine Lösung zu finden ist unheimlich schwierig - sowohl politisch, psychologisch als auch moralisch. Ich nehme daher an, dass die Flüchtlingsfrage ausgeklammert werden wird. Hier geht es um den Charakter des Staates Israel. Wie viel Flüchtlinge kann Israel aufnehmen, ohne dass dieser Charakter verloren geht? Mein Vorschlag wäre, dass Israel eine Teilverantwortung in der Flüchtlingsfrage übernimmt und es ansonsten das Recht des Staates Palästina ist, soviel Flüchtlinge wie gewünscht aufzunehmen.
Beim Grenzverlauf und dem Schicksal der jüdischen Siedlungen ist jetzt immer wieder von einem Gebietsaustausch die Rede. Glauben Sie, dass dies eine Lösung sein kann?
Die Grundforderung der Palästinenser ist die Rückkehr zur sogenannten grünen Linie. Damit geben sie schon 78 Prozent ihres Landes auf. Die Israelis vergessen gern, wie viel Land sie schon vorher annektiert haben und wollen jetzt über die restlichen 22 Prozent einen Kompromiss finden. Die jüdischen Siedler sitzen auf arabischem Land. Es ist schwierig genug, auf nur 22 Prozent einen Staat zu organisieren. Baraks Landkarten zerstückeln die Westbank und schaffen Enklaven, so dass ein Palästinenser keine zehn Kilometer laufen kann, ohne auf eine israelische Straßensperre zu stoßen. Ich könnte mir vorstellen, dass kleine Siedlungsblocks am Rande der grünen Grenze bleiben und dafür Land aus dem Negev an den Gazastreifen angebunden wird. Das ist vielleicht nicht ganz unmöglich.
Wenn es eine Gesamtlösung gibt, wird das nicht die Widerstandsbewegungen zu neuem Terror veranlassen?
Wenn die palästinensische Führung den eigenen Staat durchsetzt und dieser internationale Anerkennung findet, dann wird die große Mehrheit des Volkes hinter ihr stehen. Terror kann nur stattfinden, wenn das Volk dafür ist. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn ich war in meiner Jugend für kurze Zeit selbst ein Terrorist. Auch die Hamas wird ein Interesse haben, im neuen Staat an Einfluss zu gewinnen und nicht etwas zu tun, dass der Bewegung nur schaden kann. Arafat ist ein Mann mit hervorragender politischer Intuition. Er wird keinem Vertrag zustimmen, der nicht von seinem Volk unterstützt wird.
Und wie werden die Israelis auf einen Vertrag reagieren?
Ich bin überzeugt davon, dass die große Mehrheit des Volkes zustimmen wird, wenn Barak ein Abkommen unterschreibt. Was die Knesset (Parlament) dazu sagt, ist weniger wichtig. Das Parlament hat sich so blamiert und wird so verachtet, dass Barak sich heute verhält wie einst De Gaulle. Er entscheidet zuerst und wendet sich anschließend ans Volk, entweder per Referendum oder per Neuwahlen. Im übrigen hätte Barak mit den Stimmen der arabischen Parlamentarier auch in der Knesset eine knappe Mehrheit.
Im Vorfeld von Camp David war ein Bild entstanden, das nur zwei Optionen offen ließ: Entweder Fortschritt oder Intifada, Frieden oder Krieg. Sehen Sie das auch so?
Nicht Intifada, aber Krieg. Die Zeiten der Intifada sind vorbei. Heute haben wir 100.000 bewaffnete Mitglieder der Fatah-Bewegung, ganz zu schweigen von der Hamas. Ein Krieg wird die Palästinenser vereinen, und das kann eine sehr blutige Auseinandersetzung werden.
Warum ausgerechnet jetzt. Es hat früher Gipfel gegeben, die nicht sehr erfolgreich waren?
Aus einem einzigen Grund: Der Palästinenserstaat muss noch in diesem Jahr ausgerufen werden. Das ist einstimmige Meinung unter den Palästinensern. Wenn Arafat das nicht tut, würde er einen politischen Selbstmord begehe. Arafat ist ein Freiheitskämpfer. Der Staat ist sein Lebensziel. In dem Moment, wo der Staat ohne den Segen von Israel und den USA ausgerufen wird, passiert etwas. Dann werden Massen von palästinensischen Frauen und Männern zu den Siedlungen marschieren, und die Siedler werden schießen. Es kann Massaker geben. Es werden sicher Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen sterben. Und erst dann wird die internationale Gemeinde eingreifen und uns dahin zurückführen, wo wir heute schon sind.
Das Gespräch führte Susanne Knaul
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