Das 20. Jahrhundert und der Krieg der Erinnerungen

Dokument der Woche Ein Aufruf der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL

Das Bewusstsein über die in der Vergangenheit einander zugefügten Verletzungen kann die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern in Europa bis heute vergiften. Das jeweilige Geschichtsbild ist dabei nie frei von Vorurteilen - und von höchst unterschiedlichen Urteilen über die einst herrschenden Kontexte geprägt.

Im Blick auf das 20. Jahrhundert hat deshalb die in Moskau ansässige Gesellschaft MEMORIAL dazu aufgerufen, ein "Internationales Geschichtsforum" zu schaffen, das in Osteuropa statt gegenseitiger Schuldzuweisungen Gespräch und Dialog fördern sollte. Wir dokumentieren wesentliche Passagen dieses Appells.

Das 20. Jahrhundert hat in der Erinnerung praktisch aller Völker Ost- und Mitteleuropas tiefe und kaum verheilende Wunden hinterlassen - durch Revolutionen, Umstürze, zwei Weltkriege, die nationalsozialistische Unterwerfung Europas und die dem menschlichen Geist unfassbare Katastrophe des Holocaust. Hinzu kommen eine Vielzahl lokaler Konflikte mit deutlich nationaler Einfärbung, im Baltikum, in Polen, in der Westukraine, auf dem Balkan. Und es gab einen Reigen unterschiedlich ausgerichteter Diktaturen, die alle der Bevölkerung ohne Umschweife die bürgerlichen und politischen Freiheiten nahmen und ein unifiziertes, für jedermann verbindliches Wertesystem aufzwangen. In wechselnder Abfolge haben die Völker eine überwiegend ethnisch begründete und verstandene nationale Unabhängigkeit gewonnen, verloren und dann wiedererlangt - und stets fühlte sich dabei die eine oder andere Gemeinschaft beleidigt und erniedrigt.

Dies ist unsere gemeinsame Geschichte - doch jedes Volk empfindet sie und erinnert sich an sie auf seine Art. So hat jedes Volk sein eigenes 20. Jahrhundert.

"Eigenes" Leiden, "fremder" Wille

Heutzutage entsteht Geschichtsstreit weniger um Fakten als um die unterschiedliche Interpretation dieser Fakten. Eine gewissenhafte Aufarbeitung der jeweiligen Ereignisse, Erscheinungen oder Prozesse verlangt ihre Betrachtung und Einordnung in den konkreten historischen Kontext. Häufig jedoch führt bereits dessen Festlegung zu Einschätzungen, die nur schwer miteinander vereinbar sind.

Welche Bedeutung hat etwa der 17. September 1939 für das polnische Volk? Die einer nationalen Tragödie - es ist der Tag, an dem das Land, das sich gerade mit letzter Kraft der Hitlerschen Aggression entgegenstemmte, sich einem unvermittelten, durch nichts provozierten Einmarsch aus dem Osten ausgesetzt sah. Dies ist eine historische Tatsache - und kein Verweis, weder auf eine Ungerechtigkeit der Vorkriegsgrenzen noch eine Notwendigkeit, die westlichen Verteidigungslinien der Sowjetunion abzusichern, kann die Stalinsche Führung der Verantwortung entheben, an der Hitlerschen Aggression gegen Polen beteiligt gewesen zu sein.

Für einen bedeutenden Teil des ukrainischen Volkes jedoch hat dieses Datum eine eigene, zusätzliche Bedeutung - es ist der Tag, an dem die ukrainischen Gebiete zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt wurden, wenn auch im Rahmen der UdSSR. Haben die Ukrainer also ein Anrecht auf ein besonderes Verhältnis zu diesen Ereignissen, eines, das sich von dem der Polen unterscheidet? Ja, das haben sie. Doch haben sowohl Polen wie auch Ukrainer das Recht, dass die Unterschiede zwischen ihren jeweiligen Erinnerungen verstanden und respektiert werden.

In Georgien und der Ukraine sind jüngst "Museen der sowjetischen Besatzung" eröffnet worden. Die meisten Bürger der Russischen Föderation reagierten darauf mit Befremden und Entrüstung. In Russland wissen nur Fachleute und Historiker um die Existenz der unabhängigen Georgischen Demokratischen Republik in den Jahren 1918 bis 1921 und die Versuche von 1918 bis 1920, die unabhängige Ukrainische Volksrepublik zu schaffen.

In den betroffenen Ländern ist die Erinnerung an eine staatliche Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert - und mag sie historisch auch kurzlebig gewesen sein - nie vollständig verschwunden. Es ist also nur natürlich, dass dort jetzt der Versuch einer Neubewertung der Ereignisse von 1920 und 1921 unternommen wird.

Man muss nicht mit allen Schlussfolgerungen einverstanden sein, die dabei gezogen werden. Man kann mit jenen Historikern debattieren, die die jetzige ukrainische und georgische Staatlichkeit auf die Ereignisse von 1918 zurückführen. Man kann jenen entschieden widersprechen, die geneigt sind, die gesamte Geschichte dieser Länder vom Ende des Bürgerkrieges bis 1991 als eine Zeit der "Okkupation" zu betrachten. Die Gesellschaft in Russland jedoch, einem Land, dem viele für gewöhnlich die Schuld an allem zuschreiben, was das kommunistische Regime verbrochen hat, muss über die Geschichtsdiskurse in den Nachbarländern im Bilde sein; sie muss mit Verständnis Position beziehen und darf über diese Diskussionen nicht hinweggehen, indem sie sich auf die Rubrik "Vermischtes" und Karikaturen beschränkt.

Zu wünschen wäre aber auch, dass die georgische und die ukrainische Öffentlichkeit verstehen: Das Ausbleiben einer automatischen Zustimmung in Russland zu den scharfzüngigen Attributen, wie sie mitunter in Georgien und der Ukraine verwendet werden, muss nicht unbedingt "Großmacht-Chauvinismus" oder "überkommene Denkmuster eines imperialen Bewusstseins" bedeuten.

Die Liste der Beispiele, wo die Erinnerung eines Volkes im Widerspruch zu der eines anderen steht, ist lang. An diesen Widersprüchen ist absolut nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil. Wenn ihnen mit dem nötigen Verständnis begegnet wird, können sie das Geschichtsbewusstsein eines jeden Volkes bereichern und unsere Vorstellungen über die Geschichte erweitern.

In nahezu allen Ländern des ehemaligen "sozialistischen Lagers" gedeihen heute jene Formen der historischen und politischen Reflexion, die es ermöglichen, die "eigenen" Leiden allein als Ergebnis "fremden" bösen Willens darzustellen. Die Tatsache, dass sich die kommunistischen Regime in diesen Ländern über viele Jahre hinweg nicht nur auf sowjetische Bajonette stützten, sondern auch auf interne Ressourcen, verschwindet allmählich aus der nationalen Erinnerung.

Heroismus und Selbstopferung

Die Geschichte der zusammengebrochenen Sowjetunion ist für Russland untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden - so sieht es das Selbstverständnis der meisten Russen. Hierdurch, und zum Teil durch die Rechtsnachfolge der UdSSR, ist Russland für eine Reihe seiner Nachbarvölker zu einem bequemen Objekt geworden, dem sich leicht die historische Verantwortung zuschreiben lässt - das heutige Russland wird dann recht eindeutig mit der Stalinschen UdSSR gleichgesetzt und als Quelle all der eigenen nationalen Tragödien hingestellt.

Russland wiederum hat seinen eigenen Weg zur Milderung jener Bürde beschritten, die von der Geschichte Völkern auferlegt wurde, die den Totalitarismus durchlebt haben. An Stelle gewissenhafter Versuche, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in all ihrer Tragik und Tragweite aufzuarbeiten, an Stelle einer ernsthaften Diskussion der sowjetischen Vergangenheit erleben wir hier die Wiederauferstehung eines nur leicht veränderten sowjetischen, patriotisch begründeten Großmachtmythos - eines Mythos, der die Geschichte unseres Landes als eine Abfolge ruhmreicher heroischer Leistungen sieht. In diesem Mythos ist im Großen und Ganzen keinerlei Platz - weder für Schuld, noch für Verantwortung oder eine Wahrnehmung der Tragödie selbst.

Welche staatsbürgerliche Verantwortung kann denn aus Heroismus und Selbstopferung erwachsen? Viele Bürger Russlands sind daher schlichtweg nicht in der Lage, sich den Grad der historischen Verantwortung der Sowjetunion gegenüber den heutigen Nachbarländern Russlands oder aber die Ausmaße der Katastrophe, die Russland selbst ereilt hat, bewusst zu machen. Sich dieser Erinnerung zu verweigern, sie durch das Bild eines Vulgär-Imperiums zu ersetzen, in dem - frei nach Schewtschenko - "Vom Moldauer bis zum Finnen, jedermann / In jedweder Sprache glücklich schweigt / Da er so in Wohlsein schwelgt", stellt für Russland eine ebenso große gesellschaftliche Gefahr dar, wie die Kultivierung eigener nationaler Verletzungen für seine Nachbarn Gefahren birgt.

Es sei nochmals betont: Nationale Unterschiede in der Interpretation wichtiger historischer Ereignisse sind natürlich und unvermeidlich. Es geht lediglich darum, sich klar zu machen, wie man sich dazu verhält.

Die Leiden und das Unglück des eigenen Volkes dürfen nicht in eine Art moralische Überlegenheit gegenüber anderen Völkern verkehrt werden, die vermeintlich (oder tatsächlich) weniger stark gelitten haben; diese Leiden dürfen nicht als politisches Kapital eingesetzt und dann etwa in einen Forderungskatalog an die Nachbarstaaten und Nachbarvölker umgemünzt werden.

Keinesfalls jedoch darf der Versuch unternommen werden, die Widersprüche zwischen den "nationalen Geschichtsbildern" auszunutzen, indem die Besonderheiten der nationalen Erinnerung zum Anlass für interethnische Feindseligkeiten und zwischenstaatliche Konflikte genommen werden.

Es ist heute - ganz gleich mit welcher historischen Sicht - unproduktiv und gefährlich, die Völker in "Opfer" und "Henker" zu teilen und über die Vergangenheit in Kategorien "historischer Schuld" der einen gegenüber den anderen zu urteilen.

Entscheidend ist hier weniger der Umstand, dass das moderne Rechtsdenken die Konzeption einer Kollektiv- oder gar Erbschuld für ein Verbrechen verwirft. Wir sind der festen Überzeugung, dass für eine ernsthafte Aufarbeitung der Geschichte, für eine Suche nach Auswegen aus der Sackgasse historischer Widersprüche nicht die Suche nach den Schuldigen an erster Stelle stehen sollte, sondern eine staatsbürgerliche Verantwortung, die jeder Einzelne, der sich als Teil einer bestimmten historisch gewachsenen Gemeinschaft empfindet, freiwillig wahrnimmt. Falls ein Volk nicht nur durch einen aktuell gegebenen staatsbürgerlichen und politischen Alltag vereint ist, sondern auch durch eine gemeinsame Vergangenheit und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, so erstreckt sich staatsbürgerliche Verantwortung auf natürliche Weise auch auf die nationale Geschichte. Es ist staatsbürgerliche Verantwortung für die eigene Geschichte, und nicht die große Leistung oder große Katastrophe als solche, die aus einem Volk eine vollwertige Nation machen, eine Gemeinschaft von Mit-Bürgern.

Zu unserem Bedauern verwandelt sich Geschichte zusehends in ein Instrument, mit dem kurzfristige politische Ziele verfolgt werden, zu einem Knüppel in der Hand von Leuten, denen im Kern sowohl die nationale Erinnerung anderer Völker als auch die Tragödien, die das eigene Volk erlitten hat - ja auch die Geschichte selbst - gleichgültig sind. Die Ereignisse rund um das sowjetische Soldatendenkmal in Tallinn machten einmal mehr den Mangel an staatsbürgerlicher Verantwortung deutlich, den Politiker - in Estland wie in Russland - aufweisen. Die Affäre um das Denkmal illustriert eindrücklich, welche Folgen unterschiedliche nationale Geschichtsbilder haben können, wenn Streit über Geschichte zu einem "Konflikt der Erinnerungen" wird.

Was kann die Gesellschaft überkommenen Vorurteilen, gegenseitiger Intoleranz und dem Eigennutz der Politiker entgegensetzen?

Unserer Ansicht nach besteht das einzige Mittel zur Überwindung der zunehmenden Entfremdung zwischen den Völkern in einem unvoreingenommenen und zivilisierten Meinungsaustausch zu allen Fragen, in denen Differenzen über unsere gemeinsame Geschichte bestehen. Falls wir dabei zu einer gemeinsamen Ansicht zu einem wundem Punkt in unserer Geschichte gelangen, so wäre das hervorragend. Falls nicht, wäre es auch kein Unglück - jeder bliebe zwar bei seiner Meinung, doch lernten wir dabei auch jene Bilder zu verstehen, die im Bewusstsein unserer Nachbarn vorhanden sind. Einzige Voraussetzung für einen solchen Dialog ist die Bereitschaft der Beteiligten, die Standpunkte des Anderen zu respektieren - wie "falsch" einem diese auf den ersten Blick auch erscheinen mögen -, das aufrichtige Interesse diese Standpunkte kennenzulernen sowie der aufrichtige Wunsch, sie zu verstehen. Für einen solchen Dialog braucht es ein Diskussionsforum.

Altes Europa, Neues Europa

Die Gesellschaft MEMORIAL schlägt allen, die an einer inhaltlichen und in gutem Willen geführten Diskussion von Themen der gemeinsamen Geschichte interessiert sind, vor, an der Schaffung eines solchen Forums - eines Internationalen Geschichtsforums - mitzuarbeiten. Wir stellen uns dieses Forum als einen freiwilligen Zusammenschluss von gesellschaftlichen Organisationen, Forschungszentren, Kultur- und Bildungseinrichtungen und so weiter vor, um einen ständigen Meinungsaustausch zu konfliktträchtigen Ereignissen des 20. Jahrhunderts zu führen.

Wir wünschen uns natürlich, dass auf dem Forum die in den jeweiligen Gesellschaften "herrschenden" Ansichten zur Geschichte ebenso vertreten sein werden wie "dissidentische" Positionen. Ausgeschlossen sind jene Interpretationen, die auf offen menschenverachtenden, faschistischen und rassistischen Wertesystemen beruhen.

Der Zustand der nationalen Erinnerung in den Ländern Mittel- und Osteuropas ist vor allem für die Länder der Region von Interesse und Bedeutung, aber auch darüber hinaus. Das so genannte Alte Europa wächst mit dem Neuen Europa zusammen. Nahezu alle Staaten der Region sind zu Mitgliedern gesamteuropäischer Strukturen geworden, mit den Staaten halten die Traumata und Komplexe unserer Geschichte Einzug in die europäische Kultur, die europäische Erinnerung. Die Erfahrung der postkommunistischen Staaten bedeuten eine Herausforderung für alle Europäer - sie muss verstanden werden. Der von uns vorgeschlagene Dialog ist lediglich Teil eines gesamteuropäischen und letztendlich weltumspannenden Geschichtsdialogs.

Wir schlagen vor, die konkreten Formen, in denen der Dialog stattfinden soll - eine eigene Internet-Seite, eine Reihe bi- und multilateraler Konferenzen zu bestimmten Themen, an denen nicht nur Fachhistoriker teilnehmen sollen, sondern auch Juristen, Soziologen, Journalisten, Aktivisten gesellschaftlicher Organisationen etc. - gemeinsam mit all jenen auszuarbeiten, die unsere Idee unterstützen und sich an ihrer Verwirklichung beteiligen wollen. Dies gilt auch für die "Produkte" der Forumsarbeit, bis hin zur Herausgabe gemeinsamer Periodika oder der gemeinsamen Erstellung von Lehrbüchern für die Sekundarstufe, durch die Jugendliche in jedem unserer Länder etwas über die "nationalen Geschichtsbilder" ihrer Nachbarstaaten und -völker erfahren können.

Im März 2008

Hervorhebungen im Original, Zwischentitel von der Redaktion

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