Das Arbeitsfeld ist die Krise auf allen Gebieten

Robinson Arbeit II Geschichte und Gegenwart eines Zeitschriftenprojekts

1930/31

Die Weltwirtschaftskrise hat ihren Höhepunkt erreicht. In Deutschland steigt die Zahl der Arbeitslosen auf über vier Millionen. Die SPD-Regierung ist gefallen, der Reichstag aufgelöst. Es gibt Streiks, Demonstrationen und Schlägereien. Notverordnungen lösen einander ab. Öffentlich wird von einer Faschisierungswelle gesprochen. Diese beunruhigenden gesellschaftlichen Vorgänge veranlassen eine Reihe von Autoren zur Selbstverständigung und zur Verbesserung ihres Einflusses in der Öffentlichkeit, die Gründung einer von ihnen selbst getragenen Zeitschrift zu erwägen. Der Titel der für den Rowohlt-Verlag geplanten Zeitschrift sollte lauten: Krise und Kritik, herausgegeben von Herbert Ihering, unter Mitwirkung von Walter Benjamin, Bertolt Brecht, und Bernard von Brentano.

Dazu schrieb Benjamin: "Das Arbeitsfeld der Zeitschrift ist die heutige Krise auf allen Gebieten der Ideologie und die Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik."

Brecht ergänzte: "Die Zeitschrift nimmt ›Kritik‹ in seiner doppelten Bedeutung, indem sie dialektisch das ganze Stoffgebiet in eine permanente Krisis umdenkt, also die Zeit als in zweifacher Bedeutung ›kritische Zeit‹ auffasst."

Unter den vorgesehenen Mitarbeitern waren: Alfred Döblin, Robert Musil, Erwin Piscator, Theodor Adorno, Hanns Eisler, George Grosz, Ludwig Marcuse, Karl August Wittfogel, Karl Korsch, Wilhelm Reich, Ernst Bloch, Georg Lukács und andere.

Krise und Kritik ist nie erschienen. "Es klingt paradox: die Zeugnisse des nicht realisierten Plans teilen mehr mit über die ästhetischen und politischen Überzeugungen links stehender Künstler und Wissenschaftler als manches seinerzeit in die Öffentlichkeit gelangte Dokument." (Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Suhrkamp 2005)


2005/06

Die Weltwirtschaftskrise hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. In Deutschland steigt die Zahl der Arbeitslosen auf über fünf Millionen. Rot/Grün ist abgewählt, die Große Koalition regiert. Streiks, Demonstrationen und Schlägereien halten sich in Grenzen, Expertenkommissionen und Untersuchungsausschüsse lösen einander ab. Öffentlich wird von einer Globalisierungswelle gesprochen. Diese beunruhigenden gesellschaftlichen Vorgänge veranlassen uns, das Projekt Krise und Kritik wiederaufzunehmen und zu verwirklichen.

Worum geht es heute? Es ging und geht - wie vor 75 Jahren - um die Verwandlung von Wissen in Macht. Wozu kritisch denken, wenn der Erkenntnisgewinn keine praktische Folgen hat? Die Frage, wie die Kritik von den Massen ergriffen werden kann - oder nüchterner formuliert: Welchen gesellschaftlichen Nutzen hat Kritik? - ist zu beantworten. Krise und Kritik versucht dieser speziellen Krise Kontur zu verleihen. Es geht darum, an die Wunden der Kulturproduzenten zu rühren, ihr Unbehagen mit der gegenwärtigen Situation und ihrer eigenen Position abzutasten, eine kleine Kartographie der kulturellen Malaise zu zeichnen. Krise und Kritik überprüft die Aktualität des Krisenbegriffs - mit dem Ziel einer Bestandsaufnahme der kritischen Intelligenz.


Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker: "Sachkritik braucht Beziehungskritik."

Noam Chomsky, Sprachwissenschaftler: "In Europa gibt es gerade einmal die Idee davon, was Redefreiheit eigentlich ist."

Richard Sennett, Soziologe: "Solidarität zwischen Intellektuellen ist ein tödliches Rezept."

Sophie Freud, Sozialpädagogin: "Ich denke, ich habe die Welt nicht verbessert, aber ich habe sie auch nicht schlechter gemacht.

Karl-Heinz Brodbeck, Wirtschaftswissenschaftler: "Die Philosophen haben die Welt noch viel zu unreichend interpretiert; wir verändern sie dauernd und verstehen gar nicht, was passiert. Es kommt darauf an, sie richtig zu interpretieren."

Diedrich Diederichsen, Pop-Theoretiker: "Das Elendste ist eine Produktionsform, mit der man einen erträglichen Kompromiss mit den Verhältnissen für seine Lebenszeit geschlossen hat. Darüber sollte man reden."

Bernard Stiegler, Philosoph: "Die Zerstörung der Libido ist nicht allein eine Krise, sondern eine geistige Katastrophe."

Reinhart Koselleck, Historiker: "Die Kunst, kritisch zu sein und gleichzeitig anzuerkennen, was man kritisiert, ist glaube ich, nicht leicht zu lernen."

Jean-Pierre Dupuy, Katastrophentheoretiker: "Nur noch ein Wunder kann uns retten, vorausgesetzt, wir glauben nicht daran."

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