Das Autogramm

Überrumpelt Sie ist eine moderne Frau. Aufgeschlossen und hilfsbereit steht Tina der Welt gegenüber. Als an einem Mittwochnachmittag ein gut aussehender ...

Sie ist eine moderne Frau. Aufgeschlossen und hilfsbereit steht Tina der Welt gegenüber. Als an einem Mittwochnachmittag ein gut aussehender dunkelhaariger Mann in mittleren Jahren bei ihr läutet, ist sie deshalb sofort bereit, ihn anzuhören. "Frau Glaubrecht?", sagt der elegante Mann zu ihr, "einen schönen guten Tag." Offenbar kennt er ihren Namen. "Guten Tag", sagt Tina freundlich in Erwartung einer angenehmen Nachricht. "Haben Sie mitbekommen, dass kürzlich der zehnte Todestag von Roy Black war?" - "Natürlich", sagt sie, "auf allen Fernsehstationen gab es ja Sondersendungen!"
"Ich sehe, Sie sind eine moderne Frau und auf der Höhe der Zeit", sagt der freundliche Mann und lächelt dabei anerkennend. Natürlich ist Tina auf der Höhe der Zeit, schließlich hat sie drei Frauenzeitschriften abonniert und weiß genau, was in der Welt passiert. Der Mann beugt sich nun zu ihr und flüstert: "Wissen Sie auch, dass Roy Black gar nicht gestorben ist?" - "Was?", sagt Tina mit geweiteten Augen, "gar nicht gestorben?" - "Ja, er lebt und niemand weiß es. Sie sind die Einzige, die jetzt davon erfährt!" Tina erschrickt. Wie ist das möglich? Und sie wird die Einzige sein, die davon erfährt! Der Mann beugt sich noch näher zu ihr und flüstert ihr direkt ins Ohr: "Roy Black lebt - er steht vor Ihnen!"
Tina wird leichenblass. Ihr geliebter Roy Black ist gar nicht tot, sondern steht vor ihr. Sie betrachtet ihn näher. Natürlich hat er sich in den zehn Jahren verändert. Aber die schwarzen Haare sind wie früher, sie hätte ihn eigentlich erkennen müssen! "Ich musste mich in den letzten zehn Jahren verstecken. Die Frauenzeitschriften hatten mich so stark verfolgt, dass ich nicht mehr konnte. Ich habe deshalb meinen Tod simuliert, die Ärzte sind natürlich darauf reingefallen. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, Sie verstehen!" Natürlich versteht Tina. Sie ist so glücklich, Roy endlich einmal persönlich gegenüberstehen zu dürfen, jetzt sogar als Einzige!
"Ich will Ihnen auch ein kleines Geschenk machen. Sie bekommen ein Autogramm von mir!", sagt der Mann mit Samt in der Stimme. "Ein Autogramm", schluchzt Tina ganz gerührt während der gut aussehende Mann den Namen Roy Black schwungvoll auf ein Blatt schreibt. "Bekomme ich auch von Ihnen ein Autogramm?" - "Von mir?", ruft Tina überrascht. "Aber ich bin doch niemand, völlig uninteressant!" - "Nein, nein", sagt der Mann, "für mich sind Sie eine sehr wichtige Frau und ich möchte später, wenn ich an unser heutiges Gespräch denke, mich immer an Ihren Namen erinnern." Mit zitternder Hand schreibt Tina ihren Namen auf die Fläche, die ihr entgegengestreckt wird. Der Mann verabschiedet sich sehr freundlich und lässt Tina erregt und mit weichen Knien zurück. Sie winkt ihm nach, als er in den Wagen steigt und abfährt.
Tina wird an diese Begegnung noch lange denken. Seit diesem Tag hat sie jede Woche nicht nur drei, sondern sieben Zeitschriften im Briefkasten.

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