Das Diktat der Politmanager

Im Gespräch Der amerikanische Soziologe Richard Sennett über die Paradigmen der modernen Ökonomie und weiche Spielarten des Faschismus

Besonders mit seinen Analysen zu den radikal neuen Organisationsformen der Arbeit im beschleunigten Kapitalismus ist Richard Sennett bekannt geworden. Nach seinen Erkenntnissen haben die extrem verkürzten Zeithorizonte in den avanciertesten Sektoren der globalisierten Ökonomie nicht nur schwerwiegende Folgen für den sozialen Zusammenhalt, sondern erzeugen auch eine Arbeitswelt der "Gleichgültigkeit".

FREITAG: Immer weniger lineare Arbeitsbiographien, immer mehr technisch vernetzte Teams, die schon nach wenigen Monaten wieder aufgelöst werden. Mobilität und Flexibilität bestimmen wachsende Teile der Arbeitswelt. Seit geraumer Zeit konstatieren Sie auch eine ganz direkte Übertragung dieses Rasters auf die Politik. Wie hat die sich unter diesen Umständen verändert?
RICHARD SENNETT: Dort wurden zwei ganz unterschiedliche Tendenzen ausgelöst. Zum einen ist eine politische Ideologie entstanden, mit der die Veränderungen an der vordersten Frontlinie der Ökonomie zu universell gültigen Prinzipien erklärt werden, die dann natürlich auch die Institutionen der Politik prägen sollen. Andererseits - gleichsam als Ausgleich - wird der Individualität von Politikern eine völlig neue Bedeutung zugeschrieben, ganz so als könnte ausgerechnet die unberührt bleiben von den institutionellen Veränderungen, in denen sich die erhöhte Flexibilität und die radikal verkürzten Zeithorizonte in der Wirtschaft niederschlagen.

Muss man dabei nicht berücksichtigen, dass diese Beschleunigung keineswegs die gesamte Ökonomie in gleicher Weise betrifft?
Durchaus, High-Tech-Firmen oder Finanz-Dienstleister ziehen bei weitem die größten Vorteile daraus. Politiker nehmen sich nur gerade diese Segmente als Vorbild und versuchen das Gesundheitssystem, die Sozialversicherungen, ja sogar Bildung und Ausbildung, nach deren Modell zu reformieren. Dies lässt sich bereits seit Mitte der neunziger Jahre beobachten und hat äußerst negative Folgen. Eine Schule - geführt nach den Prinzipien eines Hightech- oder Finanzdienstleisters mit ganz kurzfristigen Arbeitsverträgen und ebenso kurzfristigen Zielen - kann nur eine miserable Ausbildung produzieren. Das gilt ebenso für das Gesundheitssystem. Wenn Ärzte die Krankheiten ihrer Patienten ausschließlich als eine Reihe von Fehlfunktionen isolierter Organe betrachten und keine ganzheitliche längerfristige Therapie mehr anstreben, muss die Qualität der Versorgung darunter leiden.

Wie korrespondiert das mit der von Ihnen bereits angedeuteten Personalisierung in der Politik?
Die Arbeitswelt erlaubt heute nicht wirklich mehr Individualität oder gar Freiheit. Aber wenn individuelle Leistungen beständig kontrolliert und beurteilt werden, fühlen sich die Arbeitenden schließlich als relativ eigenständige Akteure, als eine Art Einzelkämpfer. Und in diesem Sinne betonen auch Politiker wie Tony Blair oder Gerhard Schröder sehr viel mehr ihre individuellen Qualitäten als etwa ihre Loyalität zu einer politischen Programmatik. Auch sie sehen sich als Einzelkämpfer, die ihre Legitimation eher in ihrer Persönlichkeit suchen als in ihrer Fähigkeit, ein bestimmtes Programm umzusetzen.

Für Politiker vom Schlage Bushs oder Blairs spielt Programmatik letzten Endes überhaupt keine Rolle mehr. So hat Blair den Irakkrieg einfach zu einem Thema erklärt, über das er nicht länger spricht. Das erinnert an die Manager, die in ultra-flexiblen, auf kurze Zeithorizonte ausgerichteten Unternehmen arbeiten und sich ebenfalls nicht auf längerfristige Planungen einlassen wollen. Sie arbeiten zwar für diese Unternehmen, aber sie können ihnen ihre Loyalität nicht schenken, weil diese Firmen möglicherweise morgen schon nicht mehr existieren. Analog dazu zeichnet sich Politik gegenwärtig durch das Paradox aus, dass Politiker sich zwar zu starken persönlichen Überzeugungen bekennen, aber eben nur für ganz kurze Zeit. Wie im Management gibt man vermeintlich unhaltbare Positionen sehr schnell wieder auf und zieht dann einfach weiter. Dieser Mangel an Kontinuität hat äußerst negative Folgen.

Aber gibt es in historisch gewachsenen Parteien wie der Labour Party oder der SPD nicht einen Widerstand der Basis gegen dieses Paradigma des Managements, gegen dessen Kurzatmigkeit?
Das ist eine Frage aus dem Geist der Vergangenheit. Die Zukunft der Politik sieht anders aus. Welche Ziele verfolgen denn letztlich Manager? Der moderne Manager sieht sich nicht in einer langfristigen Verantwortung für das Unternehmen, das er gerade führt. Immer häufiger wechselt er von einem zum anderen. Letztlich managt er nur noch isolierte Prozesse. Das Qualitätsmerkmal dieses Managers ist deshalb nicht der längerfristige Erfolg des Unternehmens, sondern die kurzfristige Steigerung der Aktienkurse von einem Quartal zum anderen. In der Politik bedeutet das, auf langfristige Strategien bewusst zu verzichten. Das Engagement des modernen Politikers hat nicht nur jede ideologische und programmatische Dimension verloren - es orientiert sich nicht einmal mehr an politischen Institutionen. Das hat zu einem Niedergang besonders der Parteiorganisationen geführt.

Inwiefern?
Sie werden heute als Unternehmen betrachtet. In Großbritannien ist die Labour Party in einem rasanten Verfall begriffen. An die Stelle der traditionellen Partei ist New Labour getreten mit einer völlig zentralisierten Macht und einem Parteiapparat, der allein auf die Person des Premiers ausgerichtet ist. Einfache Parteimitglieder sind ohne Bedeutung und nur noch Zuschauer, keine Akteure mehr. Blair behandelt sie wie Angestellte irgendeiner Firma. Das wiegt schwerer als sein Engagement für den Irakkrieg und das Scheitern einiger seiner Reformprojekte.

Heißt das letzten Endes, wir haben es heute mit einer Art "Diätversion" von Politik zu tun, die auf Parteiorganisationen mehr und mehr verzichten kann?
Ich sehe das genau umgekehrt. Für mich ist das eine besonders schwer verdauliche Politik, sie führt zu willkürlichen und autoritären Entscheidungen. Genauso wie der Manager an der Spitze eines Unternehmens einsam entscheidet: Der Dialog mit den Gewerkschaften wird abgebrochen! Der mit der unteren Managementebene ebenfalls!, so ist auch in der neuen Politik das Diktat auf dem Vormarsch. Es wird legitimiert, weil dadurch Dinge bewegt und angeblich Reformen durchgesetzt werden. In Großbritannien war der Irakkrieg hierfür ein erschreckendes Beispiel - mehr als 70 Prozent der Bevölkerung waren strikt dagegen, trotzdem hat Blair mitgemacht, einfach so! Das nennt sich dann Leadership. In Wirklichkeit ist es die Legitimierung politischer Willkür nach dem Vorbild einer immer hierarchischer funktionierenden Wirtschaft.

Ich möchte hier meine ganz grundsätzliche Kritik am modernen Kapitalismus äußern. Er ist in seiner Grundtendenz antidemokratisch. Er führt zu dem, was ich eine weiche Spielart des Faschismus genannt habe. Das hat in England und in den USA Stürme der Entrüstung ausgelöst, aber ich bleibe dabei: der moderne Kapitalismus begünstigt das Diktat, den Führer, dem es völlig gleichgültig ist, was die Mehrheit der Menschen denkt. Das ist kein Nationalsozialismus, auch kein Faschismus in der italienischen Tradition, sondern etwas ganz Neues.

Wie konnte sich ein solches Politikmodell in einer formal ja funktionierenden Demokratie innerhalb kurzer Zeit durchsetzen?
In modern organisierten Unternehmen wird die Macht doch auch von einer immer kleiner werdenden Zahl von Spitzenmanagern ausgeübt. Auch in der politischen Sphäre verfügen inzwischen einige wenige Spitzenpolitiker über sehr viel Entscheidungsmacht. In diesem System gilt prinzipiell, je weniger mit entscheiden, um so besser. In den USA und in Großbritannien kann man das am klar erkennbaren Machtverlust der Kabinettsmitglieder nachweisen. Ihre Befugnisse gleichen denen von Vizedirektoren in Unternehmen, die auch nicht viel zu sagen haben.

Aber welches waren die Instrumente und Faktoren, die eine solche Entmachtung der politischen Institutionen ermöglicht haben?
Das lässt sich nur mit dem Hinweis auf die ökonomischen Strukturen beantworten. Hinter der Tendenz zur Zentralisierung von Macht steckt keine teuflische Verschwörung irgendwelcher Machteliten. Vielmehr gibt es objektive Kräfte, die in dieser Weise wirksam werden. Die extreme Verkürzung der Zeithorizonte im Unternehmensmanagement ist die unmittelbare Folge der totalen Freisetzung riesiger Kräfte des Finanzkapitals nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Abkommens in den siebziger Jahren. Damit erschien das "ungeduldige Kapital" auf der Bühne der Weltgeschichte, das überall auf dem Globus nach Anlagemöglichkeiten sucht, die immer kurzfristigere Gewinne versprechen. Ein weiterer Faktor war und ist sicher die Technologie. Mit den neuen Kommunikations- und Informationstechnologien sowie der mathematischen Modellierung von Prozessen wurde es in den frühen neunziger Jahren plötzlich möglich, alle Vorgänge innerhalb eines Unternehmens zu jedem beliebigen Zeitpunkt minutiös zu überwachen.

Ich erinnere mich an den Besuch bei einem Freund, der eine große Investmentfirma in New York leitet. Er zeigte mir auf einem großen Computerschirm unzählige Zahlenkolonnen und erklärte: "Wir verwalten Milliarden von Dollar und wissen ganz genau, wo jeder einzelne Cent im Augenblick steckt. Wir verlassen uns nicht mehr auf irgendwelche Berichte, wir können es jetzt mit eigenen Augen sehen und zwar in Echtzeit."

Diese Technologie musste einfach dazu führen, Entscheidungen zu zentralisieren und die mittlere Managementebenen zu eliminieren, deren Aufgabe es ja gerade war, Daten auszuwerten und zu deuten. Diese Veränderungen in der Tiefenzone der Gesellschaft sind wahrscheinlich irreversibel.

Wohin aber ist die politische Macht, von der Sie sprechen - die Macht von Parteien, Parlamenten und Kabinetten - abgewandert?
Da steht an erster Stelle die Finanzsphäre. Pensionskassen zum Beispiel sind heute zu mächtigen Akteuren geworden, ganz einfach weil sie über riesige Kapitalmengen verfügen. Die Macht ist auch in die Hände einer neuen Managerklasse übergegangen, die sehr genau weiß, wie man mit den neuen Strukturen umgeht und sich in zumeist informellen Netzwerken organisiert, die inzwischen bis nach China reichen.

Diese Netze geben Managern heute die Freiheit, Dinge zu tun, die innerhalb der offiziellen Strukturen eines Unternehmens völlig unmöglich wären. Macht entzieht sich in dieser Weise ganz einfach der Wahrnehmung und wird unsichtbar. Die offiziellen Funktionsbezeichnungen in einer Unternehmenshierarchie sagen deshalb heute so gut wie nichts mehr aus. Wirkliche Macht hängt vom Platz ab, den man innerhalb dieses weltweiten Netzwerkes einer immer kleiner werdenden Gruppe von Spitzenmanagern einnimmt. Übertragen auf die Politik heißt das, die Bürger haben in der politischen Sphäre keinen Platz mehr. Nur eine äußerst schmale Schicht der Gesellschaft hat überhaupt noch Zugang zu ihr.

Bei Ihrer Analyse verstärkt sich der Verdacht, dass es eine technologische Dimension von Herrschaft gibt und die Machtbalance nicht zuletzt durch die neuen Kommunikationstechnologien verändert wurde. Heißt das umgekehrt: Ein demokratischer Ausgleich würde auch auf eine technologische Barriere stoßen?
Wir waren naiv und von diesen Technologien so sehr begeistert, wir vergaßen zu fragen, was möglicherweise die Folgen für die Demokratie sein könnten. Wir sind daher mit diesen Technologien nicht sehr kreativ umgegangen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass man sie auch zur Befreiung der Menschen einsetzen kann, anstatt diese immer mehr in Subjekte zu verwandeln, die der totalen Kontrolle im Sinne Michel Foucaults unterworfen sind. Das ist vielleicht überhaupt die zentrale Aufgabe künftiger Politik, Technologie zu demokratisieren. Das wird nicht allein eine Frage der richtigen politischen Ideologie sein. Das hängt ganz unmittelbar von den Techniken der Programmierung von Maschinen ab. Die Lösung liegt sicher im Inneren der Maschinen selbst.

Das Gespräch führte Stefan Fuchs

Gekürzte Fassung aus der Interviewreihe Ende der Politik des Deutschlandfunks, die noch bis zum 7. September ausgestrahlt wird.


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