Das Geheimnis des Michael Glos

Arbeitsmarkt I Weil viele Menschen nicht von ihrem Lohn leben können, gibt es keine Vollbeschäftigung

Was nützt die Vollbeschäftigung, wenn viele Arbeitnehmer nicht mehr von ihrem Lohn leben können?" Mit dieser Frage bewarb die ARD Anfang des Monats den neuesten Talk bei Anne Will. Die Überschrift der Sendung: Bespitzelt, ausgeliehen, unterbezahlt - Vollbeschäftigung um jeden Preis. Das Thema aufzugreifen war ehrenwert, weil die miserablen Bedingungen in Frage gestellt wurden, unter denen immer mehr abhängig Beschäftigte wegen Hartz IV, Leiharbeit und anderen Formen des Lohndumpings arbeiten müssen. Und das vor 4,5 Millionen Zuschauern. Entsprechend harsch reagierten die Leitmedien, die sich seit Jahrzehnten dem Neoliberalismus verschrieben haben, auf die Sendung. Sie haben es versäumt, Fragen zu stellen, und mit dem Nachbeten wirtschaftsliberaler Thesen den Zeitgeist bestimmt. Jetzt verweigern ihnen immer mehr Menschen die Gefolgschaft. Das erklärt die Aufregung.

Wer aus der einleitenden Frage allerdings schlussfolgert, eine Voraussetzung für Vollbeschäftigung ist, dass viele nicht mehr von ihrem Lohn leben können, der irrt. Tatsächlich ist dies ja das vorherrschende Verständnis unter deutschen Wirtschaftsvertretern, Politikern und anderen "Experten". Unermüdlich werben sie für "Lohnzurückhaltung", damit Wachstum und Beschäftigung kräftig gedeihen, die Haushalte ausgeglichen, Schulden abgebaut und soziale Sicherungssysteme "zukunftsfest" gemacht werden können. Die richtige Antwort lautet hingegen: Weil viele Arbeitnehmer nicht mehr von ihrem Lohn leben können, gibt es keine Vollbeschäftigung.

Die "Lohnzurückhaltung" hat allein in den vergangenen 15 Jahren dafür gesorgt, dass der durchschnittliche Reallohn eines Beschäftigten heute rund vier Prozent unter dem Niveau von 1993 liegt. Dieser Lohnverzicht hat aber nicht dazu geführt, den Anteil der Arbeitslosen an den Erwerbstätigen zu senken. Die abgesenkten Wachstumsprognosen des Wirtschaftsministeriums und des Internationalen Währungsfonds machen einen baldigen Anstieg der Erwerbslosigkeit in Deutschland wieder wahrscheinlich. Wie man vor diesem Hintergrund behaupten kann, Deutschland sei "auf dem besten Weg zur Vollbeschäftigung", bleibt das Geheimnis des Bundeswirtschaftsministers Michael Glos.

Vollbeschäftigung, angezeigt durch Erwerbslosenquoten von unter drei Prozent, herrschte in (West-)Deutschland zuletzt zwischen 1960 und 1973. Die Bedingungen, unter denen Vollbeschäftigung erreicht und gehalten wurde, machen deutlich, woran es derzeit wirklich mangelt.

Das Wirtschaftswachstum in den fünfziger und sechziger Jahren lag weit über dem, was heute als Aufschwung gefeiert wird. Es basierte maßgeblich auf kräftigen Lohnsteigerungen, dem daraus folgenden Anstieg der Konsumausgaben und hohen Investitionen. Gleichzeitig fiel der Anstieg der Verbraucherpreise erstaunlich niedrig aus. Zwischen 1950 und 1960 lag er sogar unter zwei Prozent. Deutschland hätte also in einer Phase mit einem Wirtschaftswachstum von jährlich über acht Prozent das heutige Inflationsziel der Europäischen Zentralbank EZB erfüllt.

Die Zahlen müssten diejenigen zum Nachdenken anregen, die die Arbeitslosigkeit vor allem mit sinkenden Löhnen bekämpfen wollen und über jede Tarifrunde zuerst einmal das Damoklesschwert der Inflation hängen. Aber auch der an dieser Stelle häufig geübte Schulterschluss von solidarisch und ökologisch motivierten Anhängern des Verzichts ist fehl am Platz. Denn die guten Absichten erzielen, einmal umgesetzt, gegenteilige Wirkung: Arbeitslosigkeit und soziale Not steigen, Konsum und Investitionen, die ja auch in umweltfreundlichere Produkte, Produktionsverfahren und neue Energien gelenkt werden könnten, verlangsamen sich.

Heute lassen steigende Verbraucherpreise, vor allem die Explosion bei Energie und Nahrungsmitteln, aufgrund der "Lohnzurückhaltung" Arbeitnehmereinkommen, Renten und Sozialleistungen real sinken. Vor diesem Hintergrund zu fordern, "Zurückhaltungen bei den Lohnverhandlungen sind außerordentlich wichtig, um angesichts der beunruhigend hohen Inflation zur Preisstabilität zurückzukehren", zeigt nur erneut, dass der EZB-Chef Jean-Claude Trichet, wie seine Vorgänger, auf dem beschäftigungs- und wachstumspolitischen Auge blind ist.

Vollbeschäftigung eröffnet noch eine wichtige Perspektive: Längst ist aus dem Blick geraten, dass auch die von Regierenden unisono ins Zentrum gerückten finanziellen Probleme der öffentlichen Haushalte, in Gesundheitswesen und Rentensystem durch steigende Einnahmen gelöst werden könnten. Die Bundesregierung aber versucht wie die Vorgängerregierung das Pferd von hinten aufzuzäumen. Sie strebt an, die öffentlichen Haushalte mit strenger Sparsamkeit zu sanieren und erhebt Schuldenfreiheit zum Dogma. Damit mindert sie die Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Die soziale Ungleichheit nimmt weiter zu. Bund, Länder und Gemeinden werden sich unweigerlich erneut mit steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen konfrontiert sehen.

Linke Wirtschaftspolitik will die Umverteilung von unten nach oben stoppen, die preistreibende Monopolmacht der Stromkonzerne brechen, wie insgesamt wirtschaftliche Macht verhindern. Die Ausgaben für Bildung sollen steigen, Investitionen in neue, umweltschonende Technologien und Produkte gefördert werden. Die vorhandene Arbeit soll nicht nur gerechter bezahlt, sondern auch gerechter verteilt werden, etwa durch Arbeitszeitverkürzung. Beschäftigung und Massenkaufkraft würden gestärkt. Die Belebung der Binnenkonjunktur macht Investieren für Unternehmen rentabel. Die Realwirtschaft würde gegenüber den Finanzmärkten wieder an Bedeutung gewinnen. Der übertriebene, durch Lohndumping hochgeschraubte Exportüberschuss würde abschmelzen, ohne unsere Außenwirtschaft zu schwächen. Das Ergebnis wäre ein hohes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Vollbeschäftigung bekäme wieder eine Chance.

Wer dagegen meint, er kann "jenseits der Frage, wie sich die Konjunktur entwickelt, Wachstum haben", wie es der Unionsfraktionsvize und "Wirtschaftsexperte" Michael Meister stellvertretend für viele gerade erst wieder auf den Punkt gebracht hat, der weiß nicht, wovon er redet. Nicht linke Wirtschaftspolitik ist wirklichkeitsfremd, sondern der Irrglaube, sich über volkswirtschaftliche Zusammenhänge hinwegsetzen zu können.

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