Das Gelächter des Sisyphos

DER POLEMIKER WIRD 60 Hermann L. Gremliza im Gespräch mit Hermann P. Piwitt

Hermann P. Piwitt: James Joyce wird der Satz zugeschrieben: »Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem wir hin und wieder zu erwachen versuchen.« Wo alles nun wieder albträumt und die Fabrikanten und Nutznießer der Albträume sich die Hände reiben: Wie fühlt man sich da nach zig Jahren des Wachseins?

Hermann Ludwig Gremliza: Den Umständen nicht entsprechend.

Das heißt?

Für die Menschheit ist die Lage, in die man sie geführt hat, beschissen. Für den Polemiker, der die Führer und Verführer vorführt, ist sie glänzend.

Schaut man zurück, so hat sich menschliches Leben fast durchgehend in Wahnsystemen abgespielt. Und nun die kapitalistisch verfass te Demokratie als angebliches non plus ultra. Hast du noch Hoffnungen, oder gilt es nur noch das Schlimmste zu verhüten?

Was die älteren Ordnungen angeht, die du Wahnsysteme nennst: Ihre Zeit musste irgendwann ablaufen, jeder intelligentere Zeitgenosse wusste das. Das gilt für die heute herrschende Ordnung nicht mehr. Weil die Herrschenden erstens über eine Industrie des Bewusstseins und der Empfindungen verfügen, die Menschen so zurichten kann, dass sie auf sich selbst und ihre wahren Interessen losgehen wie Kampfhunde. Und zweitens haben die Damen und Herren Bourgeois mehr zu verlieren als ein paar zentralbeheizte Kackstühle in Wandlitz, sie werden also nicht wie die Kommunisten vor ein paar Leuten kapitulieren, die einmal die Woche mit Kerzen um eine Kirche herumlaufen. Wer ihre Konten stürmt, wird ein Inferno ernten.

In seinem Aufsatz »Schicksal und Aufgabe« spricht Thomas Mann vom Antikommunismus als der »Grundtorheit der Epoche«. Dem noch nicht realen Sozialismus wünscht er eine Chance. Du seiest ein Freund kommunistischer Verhältnisse, schriebst du kürzlich. Plausibel. Denn kommunistisch hat sich zumindest in Europa bisher noch keine Gesellschaft zu nennen gewagt.

Einen Freund kommunistischer Verhältnisse sich zu nennen, hat in diesen aussichtslosen Zeiten keinen anderen Sinn, als den Herrschenden und ihren publizistischen Chorknaben mitzuteilen, wie sehr man sie verachtet. Was aber Thomas Manns Grundtorheit der Epoche angeht, so war und ist sie das exakte Gegenteil: ihr sehr schlaues Fundamentum regnorum.

Gegen wen und was du angeschrieben hast, ist den Besten vertraut. Was du aber politisch für menschenmöglich hältst, davon las man selten. Ist es mehr als das Voltairesche »seinen Garten besorgen«?

Kann es mehr sein? Natürlich lässt sich die Gegenwart nicht kritisieren, ohne wenigstens eine vage Vorstellung einer möglichen besseren Zukunft im Kopf zu haben. Marx' Kommunismus setzt materiellen Reichtum, ja Überfluss voraus. Solange die Mittel kärglich sind, bleiben die Menschen roh. Der Kapitalismus, dachte Marx, werde die Produktionsmittel so weit entwickeln, dass dieser Reichtum in greifbare Nähe komme. Nach der Revolution könne die neue Gesellschaft aus dem Überfluss schöpfen. Lenin hat dann gesehen, dass der Reichtum nur in ein paar Regionen anfällt und mit der Armut im Rest der Welt bezahlt wird. Heute weiß das jeder, und noch der Arbeiter bei Opel ahnt, dass eine weltweit gerechte Verteilung der Güter nicht nur die Aktionäre ärmer machen würde, sondern auch ihn. Was jenseits des Kapitalismus allein denkbar erscheint, ist eine Art aufgeklärte Erziehungsdiktatur. Wen der Gedanke daran schüttelt, wird sich mit den herrschenden Verhältnissen abfinden müssen. Die »dritten Wege«, auf denen die Intellektuellen sich so gern tummeln, sind bloß die begrünten Rabatten, die den Mainstream säumen.

Bisher hat das internationale Finanz- und Investivkapital sich geradezu planmäßig an die Voraussagen des Kommunistischen Manifests gehalten. Inzwischen regt sich neuer Widerstand: Bourdieu und Forrester in Frankreich, die Proteste gegen Globalisierung bei den WHO-Konferenzen. Wie schätzt du das ein? Und wenn es keiner Hoffnung wert ist: Was lässt dich weitermachen? Von Flaubert stammt der Satz: »Es gibt Momente, in denen auch der friedfertigste Mensch so weit von den anderen entfernt ist, dass er getrost zusehen kann, wie die Menschheit untergeht ...«

Bis 1989 hat die Existenz des Realsozialismus einen - um ein anders gemeintes Wort der Wirtschaftswoche zu gebrauchen - »Sozialkapitalismus« erzwungen, der die Voraussagen des Manifests zu dementieren hatte. Jetzt ist das nicht mehr nötig, der Kapitalismus hat freie Bahn, Marx und Engels kriegen Recht. Aber eben nur, was den Kapitalismus, nicht was seine Aufhebung durch das Proletariat angeht. Was mich weitermachen lässt? Es muss gesagt werden, dass Bourdieu kein Ersatz für Marx ist.

Du kommst aus eher gutbürgerlichen Verhältnissen. Und du hättest in der Welt der Medien mit Leichtigkeit einen Durchmarsch machen können, hättest du mit den herrschenden Milieus nicht gebrochen. Welche früheren Erfahrungen, welche späteren Einsichten bewegten dich dazu?

Ich hatte Glück. Meine Eltern waren keine Nazis, ich musste also nie mit ihnen brechen oder so tun als ob, wie die vielen Achtund sechziger, die das gesagt, aber nicht getan haben. Das hat mir ein bisschen mehr Freiheit und wohl auch die Frechheit gegeben, mir zu nehmen, was ich wollte. Mit 26 wollte ich zum Spiegel, also ging ich zum Spiegel, habe dort nach zwei Monaten zum ersten Mal gekündigt, war nach zwei Jahren der jüngste der leitenden Redakteure. Das ging, auf Schwäbisch: wias Kendlesmache, so easy, dass es auch nicht viel bedeutete, die Karriere aufs Spiel zu setzen und aufzugeben, als sich in dem Streit, den wir mit dem Verleger über redaktionelle Mitbestimmung angefangen hatten, die Frage der Ehre gestellt hat. Augstein wunderte sich damals sehr, dass ich sein Angebot, ich solle Chef des Bonn-Ressorts werden, was auch doppeltes Gehalt bedeutet hätte, wenn ich das Maul hielte, eine Zumutung nannte. Wie sehr ein solches Nein gegen Korruption immunisiert, ist mir später angesichts einiger jüngerer Kollegen klargeworden, die sich für Peanuts ihre Meinung abkaufen ließen: Wo die hinwollten, kam ich her, ihr Ziel war mein Start gewesen.

Die »Spiegel«-Revolte von 1970/71. Was war sie? Und was bedeutet sie im nachhinein für dich?

Der Aufstand war vor allem eine Lehre. Nach ihr musste mir keiner mehr erklären, was Pressefreiheit ist und Lohnabhängigkeit und ein Angestellter und wie ein Arschkriecher riecht. Anderes habe ich erst später realisiert, beispielsweise, dass Augsteins Angst nicht grundlos war; denn wir hätten - im Fall unseres Erfolges - vielleicht genügend Anzeigenkunden verschreckt, um den Spiegel zu ruinieren. Was wir - ich sage heute: leider - damals gar nicht gewollt haben. Das Beste an der Revolte aber war, dass sie mir die professionellen Deformationen erspart hat, die Erscheinungen wie den Karasek oder den Aust so bemitleidenswert machen.

Augstein rettete sich. Aber dann übernahmt ihr »konkret«, und du hast das Blatt bis heute behauptet.

Ich bin damals zu konkret gegangen, um das Blatt, das Röhl nach der Trennung von Ulrike Meinhof zu einer Art Yellow-Press der Apo gemacht hatte - vorne Titten, hinten Kulturrevolution und dazwischen der Ratgeber »Hilfe, ich bekomme ein Kind!« - zur publizistischen Speerspitze einer seriösen Linken zu machen. Irgendwie wollte das der Röhl auch, denn seine Porno-Geschäfte gingen immer schlechter. Als ich anfing, packte mir die Buchhalterin zwei Ordner mit unbezahlten Autoren-Honoraren auf den Tisch, Schuldenstand 400.000 Mark. Das Klopapier musste die Redaktion mit Geld aus der Portokasse selber besorgen - der Verleger war im Porsche auf Sylt. Irgendwann hatten wir genug und warfen ihn raus. Das heißt, er meinte, er könnte uns rauswerfen, aber er hieß halt nicht Augstein und hatte nicht dessen Klassenhalt. Röhl hat bis heute nicht verstanden, warum ihm dies geschah und von wem, und macht deshalb, wie andere Trottel für andere Pleiten, die Stasi verantwortlich.

Blickt man zurück, hast du mit deinen politischen Urteilen und Voraussagen oft auf verblüffende Weise Recht behalten. Ich denke an deine frühe Einschätzung der Grünen. Oder an die des J. Fischer, dem »konkret« schon im Januar 1985 eine seherische Titelgeschichte gewidmet hatte. Die Frage Brechts: »Wie kommt die Dummheit in die Intellektuellen?« Hast du inzwischen eine Antwort darauf?

Dumm werden Intellektuelle, wenn sie schlau sein wollen, das heißt: wenn sie, anstatt ihre Gedanken rücksichtslos zu Ende zu denken, anfangen zu taktieren, in den Grenzen und unter den Bedingungen der sogenannten Realpolitik - Beispiel Grass. Oder wenn sie zum Sturm aufs kalte Buffet anstehen oder zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Der Verlust von Scham führt zur Verblödung, sagt Freud. Er hatte Recht - lies die letzten Sachen von Enzensberger.

Nicht, dass »konkret« Recht behielt, sondern wie, ist oft kritisiert worden. Da war das linke Seminar-Chinesisch, das offenbar nicht auszutreiben ist. Und dann die »institutionalisierte Polemik«: ein Gestus des selbstverliebten Besserwissens, wo doch zu wissen schon genügte. Hättest du nicht manchmal besser verhindert, dass man dich unzureichend nachahmte? Schließlich die erbitterten Fehden zwischen Gleichgesinnten (zum Beispiel Ebermann /Trampert gegen Kurz), bei denen man vor allem spürte, wie einsam jeder für sich ist. Was ist mit der Solidarität unter den Blauwalen?

Bloch hatte einen Schüler namens Zehm, der heute für ein Nazi-Blatt schreibt. Da habe ich es mit den Leuten, die von mir gelernt haben, besser getroffen, auch wenn zwei oder drei von ihnen ein wenig missraten sind. Und die Fehden der Gleichgesinnten? Der Vorwurf, der auch Sektierertum heißt, begleitet mich durchs Leben. Fast immer hat sich am Ende herausgestellt, dass die Gleichgesinnten gar nicht gleichgesinnt waren. Die grüne Pazifistin Claudia Roth wollte seinerzeit den Bosniern die Menschenrechte von deutscher Polizei bescheren lassen. Ich habe mit ihr Streit angefangen, weil ich wusste, dass sie bei nächster Gelegenheit ihren Frieden auch mit einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien machen würde. Gegenbeispiele sind rar. Ich ärgere mich mehr über Schläge, die ich nicht oder nicht früh genug ausgeteilt habe.

Die Wirtschaft rechnet den Menschen als Kostenfaktor. So werden mal mehr, mal weniger Überflüssige produziert. Der Ausschuss unter ihnen tritt erfahrungsgemäß nach unten, ist also traditionsgemäß Reservearmee der Bourgeoisie, neuerdings aber auch wieder eine Gefahr für das Ansehen des »Standorts Deutschland«. Vertreter der Wirtschaft sind beunruhigt. Gegen Rechtsradikale wart ihr immer reell und deutlich. Hast du je damit gerechnet, dass der Staat, dass Polizei und Gerichte, den nationalen Totschlägern noch einmal - wieder einmal - soviel Nachsicht entgegenbringen würden?

Der nationale Sozialdemokrat Schröder brächte noch viel mehr Nachsicht auf, wenn die Wirtschaft ihn nicht zwänge, das Ansehen des Standorts zu schützen. Es wäre schöner, ein Mord unterbliebe aus Menschenliebe. Aber wenn ein Schwarzer in Deutschland nur deshalb überlebt, weil sonst Daimler in den USA ein Auto weniger verkauft, ist es doch besser, als wenn er totgeschlagen wird. Wer in diesem Land auf den Retter wartet, den ein gutes Motiv treibt, kann warten, bis die Schwarzen tot sind.

Wer als in Dienst genommener Geist notorisch falsch schreibt, weil er von Berufs wegen falsch denkt, hat bei dir seit zig Jahren nichts zu lachen. Umso mehr bringst du zum Lachen; und das in inzwischen fünf, sechs Büchern. Dass die Zeiten für Polemiker so beschissen gut sind, stimmt dich das nicht auch manchmal traurig? Gremliza oder das Gelächter des Sisyphos?

Ich lasse einmal im Monat - allein oder an der Seite meines Freundes Horst Tomayer - ein- oder zweihundert Leute über die Heroen des deutschen Geisteslebens, über Walser, Reich-Ranicki, Schwarzer, Wickert und tutti quanti Tränen lachen. Wenn dann das Publikum nach zwei Stunden um Zugaben bettelt - das tröstet.

Du wirst 60. Wie geht es weiter?

Küchenlateinisch: in dubio contra.

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