Das größte Hindernis für den Frieden ist die Angst vor dem Frieden

Im Gespräch Michel Sabbah, christlicher Patriarch von Jerusalem, über die Gefahren für den jüdischen Charakter des Staates Israel

FREITAG: Sie pflegen eine Sicht auf die Ereignisse in der Region, die sehr von der üblichen Perspektive abweicht, warum?
MICHEL SABBAH: Ich halte mich nur an die Fakten - da sind die Israelis mit ihren Bedürfnissen, und da sind die Palästinenser mit ihren. Für mich sind beide menschliche Wesen mit der gleichen Würde, den gleichen Rechten und Pflichten. Als Palästinenser und als Christ meine ich, alle sollten haben, was ihnen zusteht: Israel seinen Staat, seine Sicherheit, seinen Frieden, keinen Bedarf mehr an Soldaten und Reservisten, die töten oder getötet werden. Das Gleiche gilt für die Palästinenser. Es geht darum, auf den Frieden zuzugehen und alldem ein Ende zu bereiten, was Milizen, irreguläre Waffen und jede Form von Gewalt bedeuten.

Sie sagen, es braucht Mut, den Frieden zu suchen. Sollten die Israelis mehr Mut haben?
Beide sollten das, aber die schwerste Entscheidung liegt bei den Israelis. Wenn sie sagen, wir haben uns nach 60 Jahren entschieden, Frieden zu machen, dann wird Frieden sein. Die Palästinenser sind bereit. Die arabische Welt ist bereit, die Beziehungen zum Staat Israel zu normalisieren.

Spüren Sie denn in Israel den politischen Willen, Frieden zu machen ?
Nein, noch nicht. Die Israelis haben Angst vor dem Frieden, für sie ist Frieden ein Risiko. Sie würden sich ins Unbekannte werfen, und das würde für sie die Unsicherheit vergrößern. Nach meiner Meinung liegt aber die einzige Zukunft für Israel im Frieden. Nur gibt es dagegen viel Opposition aus ideologischen Gründen - das Haupthindernis für den Frieden ist die Angst vor dem Frieden.

Als Sie jüngst den israelischen Premier Olmert trafen, hatten Sie den Eindruck, dass sein politischer Wille in Richtung Frieden geht?
Ehud Olmert hat sich entschieden, Frieden zu machen, trifft aber - nach eigener Aussage - auf Hindernisse.

Welche?
Sie ergeben sich aus dem Widerstand der Ultrarechten, der religiösen Extremisten und Parteien gegen seine Politik. Sie glauben, das ganze Land müsse israelisch bleiben und dürfe keinen Zentimeter an die Palästinenser abgeben. Und die religiösen Parteien haben viel Macht.

Aber die palästinensische Bevölkerung wächst unablässig. 20 Prozent der israelischen Araber mit vollen Bürgerrechten sind Palästinenser. Morgen werden es 40 oder 50 Prozent sein. Der jüdische Charakter des Staates wird verschwinden, und deshalb wird Israel als jüdischer Staat verschwinden. Also kann nur der Frieden Rettung bringen. Das Risiko für Israel liegt nicht beim Frieden, sondern in einer fortgesetzten Kriegssituation. Ungeachtet dessen halten die Israelis den Frieden nach wie vor für ein Risiko. Sie sagen, es ist ein Risiko, den Palästinensern zu erlauben, stärker zu werden, weil sie dann ihre Mittel nutzen, um Widerstand und Gewalt zu entwickeln. Deshalb haben die Israelis Angst vor dem Frieden.

Sie sagen, die arabische Welt sei bereit, ihre Beziehungen mit Israel zu normalisieren. Aber Israel kann nicht ignorieren, dass die Hamas fortfährt, ihm die Anerkennung zu verweigern. Außerdem wächst der islamische Fundamentalismus in den arabischen Staaten.
Hamas existiert. Und die Hisbollah existiert. Sie sind eine Bedrohung. Aber warum existiert Hamas? Was lässt sie wachsen in dieser Kriegssituation, in der Armut und Elend besonders in Gaza überhand nehmen? So lange sich daran nichts ändert, wird es Hamas geben. Sobald es einen ernsthaften und dauerhaften Frieden gibt, wird der Einfluss von Hamas und Hisbollah geringer werden. Zuletzt werden sie ihn ganz verlieren.

Sollte Israel mit Hamas sprechen?
Israel und auch die EU müssen mit der Palästinensischen Autorität, also Präsident Abbas, sprechen, sollte sich Hamas mit ihm versöhnen. Bisher haben wir genau das Gegenteil erlebt, sobald Hamas Teil der palästinensischen Regierung wird, boykottiert die Internationale Gemeinschaft alles, was palästinensisch ist. Im Gaza-Streifen leben anderthalb Millionen Menschen, die dürfen nicht vergessen werden. Wenn Hamas und Fatah wieder zu einem Konsens finden, der den Willen Palästinas als Ganzes zum Ausdruck bringt, muss die Internationale Gemeinschaft darauf eingehen. Ansonsten bleiben wir in der Sackgasse.

Sie haben mit dem Palästinenser-Präsidenten Abbas gesprochen, haben Sie ihm geraten, den Dialog mit Hamas aufzunehmen?
Ja, die beiden Teile des palästinensischen Volkes müssen wieder zusammen gehen. Doch hängt eine solche Allianz nicht zuerst von Abbas ab, sondern von der internationalen Gemeinschaft. Ich befürchte, wenn sich Hamas und Fatah verständigen und Hamas Teil einer Palästinenser-Regierung ist, wird die Internationale Gemeinschaft eine solche Entwicklung wieder boykottieren.

Was sollte sie stattdessen tun?
Wenn die Hamas in einer palästinensischen Regierung sitzt, sollte sie dies als Willen der Palästinenser respektieren.

Das Gespräch führte Samuel Martin, Caritas Jerusalem Communication Department

Michel Sabbah, der Patriarch von Jerusalem, wurde 1933 in Nazareth geboren. Vor 20 Jahren übernahm er seine Mission für die Lateinische Kirche im Heiligen Land und scheidet in diesem Jahr aus dem Amt.

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