Das Haus mit den Sonnenblumen

Rostock-Lichtenhagen, August 1992 Hinter den Blocks, in der Ferne, die Kräne der ehemals berühmten Werft

Vor zehn Jahren, am 23. August 1992, fliegen Steine und Molotow-Cocktails auf ein von Vietnamesen bewohntes Haus in Rostock-Lichtenhagen. Es geschieht unter dem Beifall einer johlenden Menge aus Hunderten von Schaulustigen. Nur wenige der zumeist jugendlichen Angreifer können später von der Polizei ermittelt werden. Im Juni 2002 verurteilt ein Gericht drei der Beteiligten nach einem oft verschleppten Prozess lediglich zur Bewährung. Sowohl die Einsatzkräfte als auch die politisch Verantwortlichen müssen sich nach den Ereignissen vom 23. August 1992 massives Fehlverhalten vorwerfen lassen.
Wenige Tage, bevor in Rostock-Lichtenhagen die Situation außer Kontrolle gerät, ist der Filmregisseur und Autor Karsten Laske wegen der Dreharbeiten zum Film Stille Wasser an Ort und Stelle. Er beschreibt, wie er den Schauplatz erlebt hat, bevor die Brandflaschen flogen.

Ich traute meinen Augen nicht. Ich kannte dieses Haus. Und jetzt sah ich eine Tagesthemen-Moderatorin sichtlich erregt von Angriffen berichten. Ein Kamerateam saß drinnen fest, während die Brandflaschen flogen, die Bewohner sowieso. Flammen schossen an der Fassade hoch. Zuschauer applaudierten.
Ich hatte eine Woche zuvor meinen ersten Film abgedreht, eine stumme Liebesgeschichte zwischen einem desertierten russischen Soldaten, der nicht zurück in seine Heimat will, und einer jungen deutschen Frau, die ihn beherbergt. Auf der Motivsuche nach einem äußeren Bild, das für die Sehnsucht nach Weite und Aufbruch steht, waren wir im Juli 1992 nach Rostock-Lichtenhagen gefahren. Groß Klein, Lütten Klein. Betonklötze, Wohnsilos. Aber dahinter die offene See. Das war´s, wonach wir suchten. Wir entdeckten einen Block, das höchste der umliegenden Häuser, von dessen Dach aus man einen guten Blick auf das gesamte Gebiet haben musste. An der Schmalseite dieses Hauses - fiel uns auf - waren keine Fenster; statt dessen prangten dort riesige Sonnenblumen, Kulturbeilage sozialistischer Stadtplanung. Dort fuhren wir hin.
Und plötzlich sahen wir sie sitzen, auf der großen Wiese vor dem Block, die zerlumpten Familien. Wir sprachen mit dem Pförtner, der in dem Aufgang, den die Vietnamesen bewohnten, Wache hielt; es lebten ja nur in einem von vier Aufgängen dieses Hauses keine Deutschen. Der Mann erzählte, wie sie täglich ankamen, "die Zigeuner und Rumänen". Weil sie gehört hätten, dass sie hier Aufnahme fänden, ein Dach über dem Kopf. Dass aber die Zimmer längst alle belegt seien. "Die hier regulär wohnen, das sind die Vertragsarbeiter, die früher in der Werft in Rostock gearbeitet haben. Jetzt müssen sie sehen, wie sie sich durchschlagen."
Die, die draußen auf der Wiese campieren, dürfe er nicht reinlassen, meinte der Pförtner. Nicht mal aufs Klo. Nur manchmal mache er eine Ausnahme, "bei den Schwangeren, wenn sie sich eine Flasche voll Wasser füllen wollen. Aber sie vertragen´s ja gar nicht. Es ist viel zu verchlort für die ..."
Wir stiegen mit zwei schüchternen Vietnamesen in einen Fahrstuhl, fuhren hoch hinauf. Sie ließen uns einen Blick von ihrem Balkon werfen. Da lagen sie vor uns, die Wohnquader in Reih und Glied oder in einem Halbrund. Dazwischen die S-Bahn-Schneise. Gerade fuhr eine Bahn von Rostock nach Warnemünde. Und hinter den Blocks, in der Ferne, die Kräne der ehemals berühmten Werft. Wir waren begeistert. Ja, von hier aus, vom Dach herunter, würden wir unsere Einstellung drehen können.
Auf dem Weg zum Wagen begegnete uns eine zerlumpte Frau mit einer Plastiktasche. Sie konnte nicht sprechen, aber sie faltete ein schmieriges Zettelchen auseinander. Darauf war eine Sonnenblume gezeichnet. Sie nickte, ja, dort wolle sie hin. Wir wiesen ihr den Weg.
Vier Wochen später waren wir wieder da. Letzter Drehtag. Vor dem Haus noch mehr Familien, noch mehr Dreck und Gestank. Um den Block herum Klamotten verstreut, die Reste einer "Spendenaktion". Die Bewohner hatten einfach die Sachen von ihren Balkons geworfen. Seht zu, was ihr brauchen könnt! Die Reste lagen jetzt herum. Wie kann man so blöd sein, dachten wir.
Wir gingen aufs Dach, drehten unsere Totale, schossen ein Foto von der Crew. Dann war die Arbeit geschafft. Wir aßen noch eine Bratwurst am Kiosk. "Happy-Pappi bei Appi". Der Kiosk sollte bald in den Medien zu Berühmtheit gelangen. Es war der 18. August, fünf Tage später flogen die Molotows.

(*) Der Film Stille Wasser wurde in der ZDF-Reihe Das kleine Fernsehspiel ausgestrahlt.



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