Das ist kaum auszuhalten, so schön

Klassik-Pop Beth Gibbons singt eine Oktave höher als sonst: Góreckis „Sinfonie der Klagelieder“. Dann ist sie wieder weg
Ausgabe 13/2019
Ob Klassik oder Pop: Beth Gibbons singt immer mit Leidenschaft
Ob Klassik oder Pop: Beth Gibbons singt immer mit Leidenschaft

Foto: Jose Jordan/AFP/Getty Images

Nach elf Jahren des Wartens kommt es auf zwölf Minuten nicht an. Also vergeht erst mal die Dauer einer halben Sitcom-Folge, Streichergrollen rafft sich von ganz tief unten zu einem weihevollen Crescendo auf, und schließlich, nach genau genommenen zwölf Minuten und dreizehn Sekunden, beginnt Beth Gibbons zu singen. Auf Polnisch. Eine Tonlage über ihrer natürlichen Contralto-Stimme. Drei Minuten Gesang, dann noch mal Streicher, bis die Dauer einer ganzen Sitcom-Folge erreicht ist und der erste Satz von Henryk Góreckis Sinfonie der Klagelieder hinter uns liegt.

In Warschau hat Gibbons das Werk mit dem Sinfonieorchester des polnischen Rundfunks 2014 zur Aufführung gebracht. Es war Teil eines Abends, an dem auch Jonny Greenwood und Bryce Dessner, Gitarristen der Artrock-Großprojekte Radiohead und The National, ihre Versuche mit klassischer Musik vorstellten. Der Gibbons-Teil erscheint nun beim Indie-Pop-Label Domino. Anlass ist netterweise, dass es keinen Anlass gibt, außer der Stimme der weitgehend verstummten Gibbons.

Góreckis dritte Sinfonie eignet sich nicht zuletzt wegen ihrer relativen Einfachheit für einen Klassik-Pop-Crossover. Er komponierte sie 1976, als seine Unternehmungen mit Minimalismus und serieller Musik bereits einige Jahre zurücklagen. Rhythmik und Harmonik verlaufen in ordnungsgemäßem Rahmen, Tempo- und Stimmungswechsel kündigen sich mit großzügigem Vorlauf an. Auch deshalb gilt die Sinfonie der Klagelieder als größter Hit ihres Schöpfers. Aufnahmen haben sich millionenfach verkauft, es ist der ultimative „crowd pleaser“ der modernen polnischen Klassik.

Für einen Fan ist das natürlich alles andere als ein „crowd pleaser“. Vor elf Jahren sang die Künstlerin aus Exeter auf dem dritten Album von Portishead über Sprachlosigkeit und Maschinengewehre, während ihre Mitmusiker alle wichtigen Bestandteile des von ihnen mitbegründeten Trip-Hop durch eine Schrottpresse drückten. Third gilt bis heute als letzte bedeutende Platte ihres Genres. Für Gibbons schien es danach nichts mehr zu singen zu geben.

Phonetik-Coaches galore

Außer Górecki eben. Versuchung und Herausforderung seien einfach zu groß gewesen, sagt die 53-Jährige heute: die Sprache, der Sopran, das Live-Setting. Mehrere Gesangs- und Phonetik-Coaches soll Gibbons im Laufe der Proben verschlissen haben. Nun erhebt sie ihre Stimme unter hörbaren Anstrengungen über eine behutsame Interpretation der Sinfonie, angeleitet vom legendären Dirigenten und Komponisten Krzysztof Penderecki. Gedanken an jenen Weichspülwohlklang, der aus den meisten Klassik-Pop-Projekten entsteht, braucht dabei niemand zu verschwenden. Gibbons kontrolliert das Material und trotzt ihm zugleich eine Schönheit ab, die sich kaum aushalten lässt.

Górecki hat die Essenz seines Heimatlandes einmal als Geschichte des Multikulturalismus beschrieben. Es seien immer wieder Eingewanderte und Minderheiten gewesen, die aus der Vielfalt ihrer Einflüsse den kulturellen Reichtum Polens geprägt hätten. Am 29. November 2014 war Beth Gibbons so eine Eingewanderte. Ihren Beitrag auf Platte zu hören, festgehalten bis in alle Ewigkeit. Was könnte besser sein als diese Gewissheit? Ein neues Album von Portishead natürlich.

Info

Henryk Górecki: Symphony No. 3 (Symphony Of Sorrowful Songs) Beth Gibbons & The Polish National Radio Symphony Orchestra Domino/GoodToGo

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