Großbritannien-Epos Im November 1944 rast eine deutsche V2-Bombe ins Londoner Kaufhaus Woolworth. Auch Kinder sterben. Francis Spufford erzählt in „Ewiges Licht“ wie ein Soziologe und Dichter, was aus fünf von ihnen hätte werden können
Deutscher Bombenangriff 1940 auf die Londoner St.-Pauls-Cathedral
Foto: Fox Photos/Getty Images
Juden, Katholiken und Anglikaner werden in ihren Sakralgebäuden durch ein ewiges Licht an die dauernde Gegenwart ihres Gottes erinnert. Diese Gegenwart ermahnt, verspricht, aber sie lädt auch ein zur Anklage – warum dies oder jenes geschehen sei, wenn doch das ewige Licht darüber wacht?
Francis Spuffords jüngster Roman, 2021 für den Booker-Prize nominiert, lässt dieses Licht anklingen, aber gibt ihm schon von der ersten Seite an die Aufgabe, ein anderes, schneidendes, zerstörendes Licht dialektisch aufzuheben. Im November 1944 rast eine deutsche V2-Bombe ins Londoner Kaufhaus Woolworth und erreicht zwar noch die Netzhäute der Kinder Val, Jo, Ben, Vern und Alec, die aber, bevor ihre Gehirne den Sehreiz verarbeiten können, tot sein werden. Sp
werden. Spufford hält diese letzte Ewigkeit ein Kapitel lang fest und exorziert sie dann, indem er aufleuchten lässt, was für diese Kinder möglich gewesen wäre, bevor sie in das andere, wärmere Licht eintreten. Wie er das tut, ist oft klug, einfühlsam, manchem Stereotyp nicht abgeneigt – und gelegentlich herzzerreißend. Dass es dabei nicht zugeht wie in Traumapornografien à la Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben verdankt man dem bissigen Humor des Erzählers.Ewiges Licht erzählt aus der Perspektive der fünf Südlondoner auch ein Stück englischer Geschichte. Die Protagonisten entstammen der Arbeiterklasse; eine lässt sich mit einem lokalen Skinhead ein; eine andere wird fast zum Rockstar; einer ist eine Art heiliger Narr, der sein Glück schließlich in der evangelikalen Gemeinde seiner westafrikanischen Frau findet; einer ist ein elender Halsabschneider und Geizkragen, den Charles Dickens nicht besser hätte porträtieren können; ein anderer schließlich schafft es vom Drucker zum Direktor einer nicht gerade unproblematischen Grundschule – fast wie in der Neukölln-Folklore, aber lässiger und bodenständiger. Klassenkämpfe, ihre Übersetzung in Gender- und Diversity-Fragen spielt der Roman in verschiedenen Etappen durch: anfangs in der guten alten Labour-Welt der starken Gewerkschaften, dann in der Zeit des Thatcherismus mit seinen Gouvernanten-Appellen an die Eigenverantwortung und schließlich mit der platzenden Immobilienblase, die offenbart, dass ein Kapitalismus, der die Träume der Menschen ausbeutet, auch die ökonomischen Energien vernichtet, auf denen er baut. Dass der Londoner „Blitz“, der deutsche Angriffskrieg, nach dem ersten Kapitel keine Erwähnung mehr findet, überrascht nicht: Er ist als Gründungsmoment selbst unerzählbar, bestimmt aber als Trauma der radikalen Kontingenz Figuren und Erzählhaltung.Ja, es fließt viel Wasser die Themse herunter in diesem Buch, und gelegentlich verführt das den Erzähler zum Ausblick in die Zukunft: dann sieht er London als „von dampfenden Reisfeldern umringte Siedlung oder die Ruinen, die die Neuseeländerin nach ihrer Reise um die halbe Welt sieht, als sie auf der zerstörten Säule von Temple Bar Platz nimmt“. Kontrapunktisch stellt der Roman den alternativen Lebensgeschichten seiner Helden hier ein Vanitas-Motiv entgegen.Großartig übersetztDie Lebenswege der fünf Helden sind, von außen betrachtet, wenig spektakulär. Der Umstand, dass der Erzähler sich im Moment der V2-Explosion in Gottes Auge geschlichen hat – im Sinne des Idealismus, der meint, dass Gottes Blick all das zusammenhält, was niemand bezeugen kann und was doch für alle geschehen ist –, dieser Umstand bedeutet nicht, die Geretteten würden den Lauf der Welt ändern. Glück und Unglück, Selbst- und Fremdsorge bestimmen ihr Dasein, und je mehr sie dazwischen zu vermitteln wissen, desto wirklicher sind sie. Niemand von ihnen ist ein großer Solist, aber gemeinsam erzeugen sie eine Musik, die wohl etwas vom Wesen des Kosmos – oder einfacher: des Ganzen – vermitteln soll. Musizieren, Singen ist für die Figuren im Roman eine Weise, sich der Zeit zu vergewissern, die durch sie hindurchgeht. Dadurch bleiben sie sich gerade dort, wo sie sich am nächsten kommen, rätselhaft.Die Stärke des Buches liegt gewiss in diesem Choralartigen, das an die großen Totenreden der englischen und amerikanischen Literatur anknüpft, an Edgar Lee Masters Spoon-River-Anthologie genauso wie an Miltons Paradise Lost, zumal es von lyrischen Einschüben, von Psalmenfortschreibungen durchdrungen und emporgehoben wird. Schwächer ist es in der individuellen Charakterisierung, die mittels erlebter Rede zwar ein hohes Maß an Authentizität erschaffen will, aber darunter leidet, dass diese innere Stimme bei den jeweiligen Personen zu gleichförmig klingt. Als Bauchredner ist Spufford Mittelmaß, als Soziologe und Dichter dagegen ziemlich gut. Das verdankt er nicht zuletzt der großartigen Übersetzung von Jan Schönherr, der seit seinen viel gelobten Jack-Kerouac-Übertragungen in der Verschränkung von Hoch- und Alltagssprache geübt ist.Wofür aber betreibt der erklärte christliche Sozialist Spufford den ganzen Aufwand, die Schicksale gewöhnlicher Menschen zu erfinden, von denen wir annehmen sollen, sie seien in Wirklichkeit tot? So wie Schrödingers berühmte Katze den Dogmatismus der Messinstrumente unterläuft, unterlaufen die fünf aus dem auf keinem Londonder Stadtplan zu findenden Bexford den fiktionalen Pakt. Der Erzähler hat sie in Staub aufgelöst, und aus Staub lässt er sie erstehen, damit sie neuerlich zu Staub zerfallen. Das Nichts liegt nicht außerhalb der Erzählung, es liegt in ihr. Bewiesen werden soll das Wunderbare einer zwecklosen Welt. Gerade darauf stützt sich ein Glaube, der das Leben als heiliges Spiel auffasst. Wie im Hymnus, der am Sterbebett von Ben, dem heiligen Einfältigen, erklingt: „Gelobt sei er in Pendlerzügen: gelobt sei er in Bass und Trommel. Gelobt sei er im Ritz: gelobt sei er in vollgepissten Ecken.“ Spuffords Roman wirkt seltsam aus der Zeit gefallen. Aber vielleicht steht er gerade deshalb mittendrin.Placeholder infobox-1
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