Hier sieht jeder 15 Jahre jünger aus als in Wirklichkeit. Die Frauen haben Kugelbrüste und lange Haare, die Männer muskulöse Brustkästen, schwere Kiefer und manchmal einen Penis. Die meisten sind leicht bekleidet, einige tragen Flügel, Tiergesichter, Tangas. Wer eine besonders feine Haut zeigt, der hat dafür extra bezahlt.
In der virtuellen Online-Welt Second Life bewegen sich die Spielfiguren, so genannte Avatare, als gingen sie auf Eis. Sie wandern mechanisch durch Städte, durch Landschaften mit fließendem Wasser und Wälder, sie fliegen oder teleportieren sich in Sekunden an einen anderen Ort, auf einen anderen Kontinent. Der Begriff Avatar kommt aus dem Sanskrit und bezeichnet das Herabsteigen einer Gottheit auf die Erde. Und der Gott hinter jedem Avatar ist ein Spieler oder eine Spielerin. Doch wozu treiben die Götter ihre mit Fantasie-Namen getauften Figuren von überall her in diese unübersichtliche Welt? Was sollen die Figuren in diesem Universum, in dem es - anders als bei anderen Multiplayer-Games wie World of Warcraft - keine Ungeheuer zu schlachten oder magische Schwerter zu finden gibt? Die Erklärung lautet: Sie sollen genau das Gleiche tun wie ihre Lenker in der realen Welt. Sich unterhalten via SMS, Sex haben, sich beschimpfen, um die Ecken ziehen - und Geld in die Hand nehmen. Denn Second Life ist keine gesellschaftliche Utopie, sondern ein Markt.
Virtuelle Dollars - und echte
Als die Betreiberfirma, die kalifornische Linden Lab, im Sommer 2003 die Idee einer interaktiven, dreidimensionalen Welt hatte, fand sie zwar Geldgeber wie den Ebay-Gründer Pierre Omidyar oder den Amazon-Erfinder Jeff Bezos - aber keine Spieler. Nach fünf Monaten hielten sich gerade einmal tausend Menschen regelmäßig in der kahlen, leeren Welt auf. Denn in Second Life gab es nichts außer Software und Speicherplatz. Die Welt sollte von den Usern erfunden werden, wie sie auch sich selbst erfanden. Die Gründer dachten schon daran, das Experiment abzubrechen, entschieden sich aber, weiter zu machen, nachdem sie wieder eine Idee hatten. Sie anerkannten geistiges Eigentum. Das bedeutete fortan, dass alles, was programmiert wurde, den Spielenden selbst gehörte. Und damit wurde alles käuflich. Der virtuelle Markt war geboren - und er war sehr real.
Wie also funktioniert dieses Wirtschaftssystem? Indem die Betreiberfirma Linden Lab zwar die User untereinander Handel treiben lässt, aber schlussendlich über alle Macht verfügt: Sie hat eine virtuelle Währung eingeführt - den Linden-Dollar - und diesen an den US-Dollar gekoppelt (1 US-Dollar entspricht rund 270 Linden-Dollar). Wenn Linden Lab den hübschen Avataren virtuelle Dollars verkauft und sie später wieder in echte Dollars umtauscht, zieht das Unternehmen in der Wechselstube Lindex eine Gebühr ab. Die tatsächliche Macht von Linden Lab besteht jedoch auch in der neuesten aller Welten darin, worin sie in der alten Welt ebenfalls besteht: im Besitz von Land. Dass es dieses Land nicht wirklich gibt, macht keinen Unterschied. Der Wert von Dingen ist ebenso groß wie die Sehnsucht danach.
In Second Life gibt es Festland und 4.000 Inseln mit einer Gesamtfläche von 360 Quadratkilometern - ein Gebiet etwas größer als die bayerische Landeshauptstadt München. Kaufen darf allerdings nur, wer eine Premium-Mitgliedschaft für zehn Dollar pro Monat besitzt. Ein Quadratmeter Land kostete im November 6,7 Linden-Dollar - bis Januar hatte sich wegen der erhöhten Nachfrage der Preis verdoppelt. Um eine Preisexplosion zu verhindern, programmierte Linden Lab flugs 800 neue Inseln - bald schon soll ein weiterer Kontinent auf den Markt kommen.
Die Betreiberfirma braucht natürlich eine stabile Währung, um den Kunden gegenüber vertrauenswürdig auszusehen. Das Unternehmen bestimmt deshalb die Menge von Linden-Land und Linden-Dollar (etwa durch die Erhöhung von Gebühren), um eine Inflation zu verhindern. "Unser Ziel ist es, den Kurs so konstant wie möglich zu halten - genauso wie es die meisten Länder im globalen Markt auch versuchen", meint Linden-Gründer und -Chef Philip Rosedale. Der Kalifornier hat mit Linden Lab eine Zentralbank geschaffen. Ein wichtiges Instrument der Geldpolitik freilich fehlt - der Leitzins. Denn Linden Lab verleiht kein Geld. Noch nicht, sagt Rosedale und träumt von einer raschen Einführung. "Dann hätten wir die traditionelle Kontrolle, wie sie Regierungen haben." - Edward Castronova, Professor an der Universität von Indiana und einer der wenigen Ökonomen, der sich mit Avataren-Welten auskennt, nennt dies eine klassische Geldpolitik: "Alle Standard-Theorien der Mikro- und Makroökonomie sind in der virtuellen Welt genauso anwendbar wie im echten Leben."
Doch bei einem - gemäß Linden Lab - monatlichen Wachstum von zehn bis fünfzehn Prozent können die Dinge schon einmal ins Schleudern geraten, da es in dieser "Neuen Welt" keine Richtlinien, Regulationen oder Kontrollen gibt. Ein allgemeiner Kodex fordert lediglich artiges Benehmen: "Verhalte dich nicht abfällig!" - "Verhalte dich gesittet!" - "Störe nicht den öffentlichen Frieden!" und so weiter. Mehr als die Macht von Linden Lab fürchten die Bewohner von Second Life denn auch die Gesetzlosigkeit und die eigene Verletzlichkeit, die im November durch eine Hackerattacke offenkundig wurde. Die Software Copybot hatte Avatare und Objekte kopiert - Second Life-Geschäftsleute schlossen aus Protest ihre virtuellen Geschäfte und lösten dadurch eine Inflation aus, ein US-Doller kostete auf dem Tiefpunkt 291 Linden-Dollar. Erst nachdem Linden Lab die Software gesperrt hatte, beruhigte sich der Markt.
Schwebende rosa Penisse
Störaktionen passieren regelmäßig. Als Anshe Chung (mit richtigem Namen Ailin Graef, eine Deutsch-Chinesin, die mit virtuellen Immobilien wohl als einziger Mensch in Second Life wirklich reich geworden ist) im Dezember ein Interview geben wollte, wurde sie mit gigantischen, schwebenden, rosa Penissen zugedeckt, während ein klassisches Crescendo ertönte. Selbst Mafia-Clans steigen ein und ruinieren Geschäfte, indem sie virtuellen Abfall abladen oder Programme installieren, damit ein Ort von den jeweiligen Rechnern langsamer geladen wird.
Neben solchen Aktionen und Verletzungen von Urheberrechten gibt es Markenfälschungen (auch in Second Life herrscht eine unerklärliche Lust auf Gucci) und Fälle von Geldwäscherei: Second Life kennt die Schattenspiele einer modernen Wirtschaft besonders gut. Die Ginko-Bank etwa lockt Avatare mit gigantischen Versprechen auf Renditen. Vorwürfe, dass sie diese auszahlt, indem sie sich bei den Einlagen anderer Kunden bedient - ein klassisches kriminelles Schneeballsystem praktiziert -, konnten noch nie wirklich entkräftet werden. Was Second Life allerdings nicht kennt, das sind Steuerbehörden. Doch die werden allmählich aufgeschreckt vom medialen Hype, der momentan um Second Life tobt und der über traumhafte dreieinhalb Millionen Spieler schwadroniert. (Linden Lab hat diese Zahl inzwischen inoffiziell nach unten korrigiert auf knapp zwei Millionen - eine Angabe, bei der auch jeder einmalige Besucher erfasst wird.) Man kann davon ausgehen, dass etwa 300.000 Personen regelmäßig im Second Life unterwegs sind, davon jeweils rund 15.000 gleichzeitig. (Zum Vergleich: Acht Millionen Leute spielen das Online-Spiel World of Warcraft.) Die Behörden jedenfalls schalten sich bisher eher zögernd ein. In den USA, in Großbritannien und Australien wird augenblicklich debattiert, ob Gewinne und Einkommen, die in der virtuellen Welt erzielt wurden und auch dort verbleiben, versteuert werden sollen oder nicht.
Bei den Spielfiguren von Second Life handelt es sich vorzugsweise um Bodyguards, Nachtclubbesitzer, Modedesigner, Architekten, Tänzer, Glücksspielbetreiber und Camper (die herumstehen, um andere Leute anzulocken), Prostituierte und Spekulanten. Verdienen tun sie nicht sonderlich viel. Gerade einmal 17.000 Spieler erwirtschaften einen Gewinn - mehr als die Hälfte davon weniger als zehn US-Dollar pro Monat. 90 Leute verdienen im gleichen Zeitraum über 5.000 Dollar. Einzige Ausnahme blieb bislang die erwähnte Anshe Chung, die sich im November selbst zur ersten Dollarmillionärin bei Second Life erklärte und es damit als erste Spielfigur auf die Titelblätter renommierter Wirtschaftsmagazine wie Business Week und Fortune schaffte. Die Großgrundbesitzerin, die von Linden-Chef Philip Rosedale "die Regierung" genannt wird, weil sie in ihrem Reich eigene Gesetze erlassen hat, kauft unerschlossenes Land (also Speicherkapazität auf den 1.750 Linden-Servern) und lässt von ihren Mitarbeitern Landschaften anlegen, bevor sie diese weiterverkauft. In ihren in China domizilierten Anshe Chung Studios arbeiten inzwischen rund 30 Programmierer, die luxuriöse Orte erschaffen, an denen sich später hübsche und reiche Avatare verlustieren.
Nike, Schwab und Le Pen
Second Life ist mit der Weltwirtschaft verbunden. Unzählige Firmen - die Zahlen variieren stark - haben bereits ihre eigenen Niederlassungen in dieser Zweiten Welt etabliert: Nike verkauft virtuelle Turnschuhe, Nissan hat auf einer eigenen Insel einen Fahrparcours eingerichtet, Toyota lanciert ein exklusives Modell, IBM lässt seine Mitarbeiter konferieren, American Apparel hat einen virtuellen Shop mit seinem Online-Shopping-Portal verlinkt. Seit Herbst berichtet ein Londoner Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters unter dem Namen Adam Reuters aus Second Life - er hat anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos beispielsweise den Avatar von dessen Begründer Klaus Schwab interviewt, der aussieht wie derjenige Mensch, den Schwab wohl morgens im Spiegel gerne sieht: Mäusezähnig wie immer, aber 30 Jahre jünger. Seit Dezember bringt der Springer-Konzern wöchentlich die englischsprachige Boulevardzeitung The Avastar heraus, in der es allerhand zu berichten gibt: Vom virtuellen Sundance Film Festival etwa, über die Harvard Law School, die diplomatische Niederlassung Schwedens oder über die Attacken auf den Avatar des französischen Rechtspopulisten Jean-Marie Le Pen, der vor der Präsidentenwahl potenziellen Wählern auflauerte.
Als Ziele der mitspielenden Unternehmen gelten Mitarbeiter-Training, Marktforschung und Publizität. Selbst die PR-Firmen, welche die virtuellen Auftritte begleiten, wollen in erster Linie experimentieren. Sie wollen bereit sein, wenn die dreidimensionalen Universen einmal größer sind als eine eingangs erwähnte Stadt in Bayern.
siehe: http://secondlife.com/ http://secondlife.com / world/de/http://getafirstlife.com / http://secondlife.reuters.com / http://www.the-avastar.com.
Und als Literatur Michael Rymaszewski et al.: Second Life. The Official Guide. Wiley Sons, 2006. 342 Seiten. Ab Mai auch auf deutsch
Rachel Vogt (35) ist im ersten Leben Journalistin. Sie arbeitet in Zürich als Redakteurin der WochenZeitung WOZ für die Ressorts Politik und Wirtschaft. Daneben schreibt sie an einem abenteuerlichen Buch über Polarliteratur.
Was kostet wie viel bei "Second Life"?
55 Linden-Dollar
Zwei obszöne Gesten
100 Linden-Dollar
Pistole mit Schalldämpfer
200 Linden-Dollar
20 Gesichtsausdrücke
225 Linden-Dollar
40 naturgetreue US-Straßenschilder
300 Linden-Dollar
Fünf Tiergruppen (Kühe, Schafe, Enten, Schweine, Frösche)
300 Linden-Dollar
Animierte Missionarsstellung
450 Linden-Dollar
Kurvenreicher Frauenkörper mit Schmollmund von Flesh Inc.
500 Linden-Dollar
Set mit 22 Bewegungen (Rennen, Sitzen, Kriechen, Schwimmen, Fallen, Fliegen ect.)
800 Linden-Dollar
Hochklassige asiatische Frauenhaut Chihiro, kein Umtausch
8.500 Linden-Dollar
Baum mit drei Baumhaus-Appartments (mit je einer Eingangshalle, zwei Zimmern und einer Terrasse
9500 Linden-Dollar
Hochhaus, 350 Meter hoch
81.500 Linden-Dollar
Monatliche Nutzungsgebühr für rund 66.000 Quadratmeter Land
465.278 Linden-Dollar
Kaufpreis für rund 66.000 Quadratmeter Land
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