Es war ein regelrechter Wahlkrieg, der besonders Moskau und St. Petersburg vor der Abstimmung über ein neues russisches Unterhaus (Duma) am 19. Dezember erschüttert hat. Noch nie seit der Oktoberkrise von 1993 - Präsident Jelzin ließ damals die Legislative gewaltsam auflösen - gab es eine vergleichbare innere Konfrontation, die nur deshalb nicht in ihrer ganzen Dramatik wahrgenommen wurde, weil sie im Schatten des Tschetschenien-Krieges stand. Mit dem Votum vom Sonntag werden die Weichen für die Präsidentschaftswahl Mitte 2000 gestellt, die der Ära des Präsidenten Jelzin ein Ende setzt, während das "System Jelzin" damit keineswegs am Ende sein muss.
Im September hatten sich noch 35 Parteien und Bewegungen um eine Registratur zu den Wahlen bemüht. Berücksichtigt wurde, wer 200.000 Unterschriften vorlegen konnte, dabei allerdings nicht mehr als 14.000 aus einer Region. Als Alternative ermöglichte das neue Wahlgesetz vom Juni 1999 die Hinterlegung von zwei Millionen Rubel (150.000 DM). Scheitert eine Partei an der Fünf-Prozent-Marke, ist das Geld verloren.
Außerdem mussten die Kandidaten vor diesem Votum erstmals die Herkunft ihrer Einkommen offenlegen. In einigen Fällen, bei denen in der Unterschriftenliste angegebene Adressen nicht existierten oder sich die Quelle eines Vermögens nicht eindeutig ermitteln ließ, galten die Bewerber als disqualifiziert. Prominentestes Opfer dieser Akkuratesse der Zentralen Wahlkommission wurden die Liberaldemokraten (LDPR) Wladimir Schirinowskis, deren Spitzenkandidat Sergei Bykow - Oligarch mit reichlich mafiotischen Verbindungen - nicht an der Evaluierung vorbei kam. Die Partei gründete daraufhin flugs den Block Schirinowski, der prompt zugelassen wurde.
Nach all diesen Prozeduren werden nun 28 Parteien und Wählervereinigungen antreten. An der Spitze der Publikumsgunst standen im November noch die Kommunisten (KPRF) mit prognostizierten 29 Prozent, gefolgt vom Wahlblock Vaterland - Ganz Russ land (geführt von Moskaus Bürgermeister Lushkow und Ex-Premier Primakow) mit zwölf Prozent und der moderat liberalen Bewegung Jabloko mit neun.
Bemerkenswert, dass diesmal keine "Partei der Macht" konkurrenzlos kandidiert; die Gruppierung Unser Haus Russland von Ex-Ministerpräsident Tschernomyrdin, die 1995 diese Funktion wahrnahm, konnte sich mit der neuen Kreml-Partei des Katastrophenministers Sergej Schoigus auf keine Allianz einigen. Auch die Kommunisten treten übrigens mit drei getrennten Listen an. Das heißt - bei dieser Wahl ist die übliche Ansetzung Demokraten gegen Kommunisten eindeutig überholt. Diesmal steht ein Teil der neuen Nomenklatura gegen einen anderen: die eher spekulativ orientierte Schicht um Jelzin gegen die auf ein korporatives Arbeitsregime ausgerichtete Formation um Juri Lushkow und Jewgeni Primakow. Das traditionelle demokratische Lager spielt praktisch kaum noch eine Rolle. Es ist zersplittert und hat - mit Ausnahme von Jabloko, das eher zu Fühlungnahmen mit Lushkow und Primakow neigt - keine Chance, in der neuen Duma vertreten zu sein. Das Gleiche gilt für die extreme Rechte.
Während der letzten Wochen waren aufschlussreiche Verschiebungen bei den voraussichtlichen Wahloptionen erkennbar: Vaterland - Ganz Russland - im Sommer der KPRF noch dicht auf den Fersen - wie auch Jabloko haben klar verloren, während eine Reihe kleinerer Gruppen nun in der Hoffnung auf die ersten Hochrechnungen warten kann, die Fünf-Prozent-Hürde genommen zu haben. In den Sympathieverlusten von "Vaterland" schlagen sich vermutlich auch die wüsten Diffamierungen nieder, die der Kreml zuletzt mit großem Aufwand und viel Geld gegen seine Rivalen in die Medien lancierte. Jablokos fallende Quote scheint indes die Quittung für das Plädoyer seines Sprechers Grigori Jawlinski, den Tschetschenien-Krieg zu beenden.
Dieser Trend könnte zu einer Zersplitterung der Kräfte in der neuen Duma führen, statt zur Konzentration in einer großen Koalition, von der sich die drei oppositionellen Blöcke - die KPRF, Lushkow und Primakow sowie Jabloko - ausreichende Mehrheiten mit verfassungsändernden Effekten versprachen, die der Präsidialmonarchie ein baldiges Ende bereiten. Entgegen allen Erwartungen hat sich auch die "Kreml-Partei" auf der politischen Bühne zurückgemeldet. Ministerpräsident Putin führt unbestritten die Rating-Liste an. Seit er sich, ungeachtet erbitterter Kritik anderer Spitzenpolitiker, offen "zu seinem Freund Schoigu" bekannte, legte auch die vom Katastrophenminister geführte Bewegung Einheit zu. Das Tandem Putin und Schoigu scheut sich nicht, den Krieg im Kaukasus in einem arbeitsteiligen Wechselbad von "starker Mann" und "guter Helfer" für die Wahl-Agitation der Kreml-Oligarchie zu nutzen. Eine Präsenz im Unterhaus ist dem Regierungslager damit sicher. Ob für eine Stabilisierung der herrschenden Macht, konkret Wladimir Putins als Präsidentschaftskandidat, damit schon etwas gewonnen ist, bleibt abzuwarten. Zu sehr ist sein politisches Schicksal an militärische Erfolge in Tschetschenien gebunden.
Doch erst im Umgang mit der wirtschaftlichen Krise Russlands wird sich zeigen, welche Qualitäten Putin für das höchste Staatsamt empfehlen und welche eher nicht. Eines allerdings dürfte - jenseits aller Denunziationen, Verleumdungen und Versprechen - nicht zu bestreiten sein, das Wahlergebnis wird mehr denn je darüber entscheiden, in welcher Verfassung Russland den im nächsten Jahr anstehenden Abgang Boris Jelzins bewältigt - als autoritär und imperial gefärbte Präsidialmonarchie oder als ein auf nationale Autonomie orientiertes korporatives Arbeitsregime. Die Entscheidung vom Sonntag kann auch beide Optionen legitimieren.
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