Das verkaufte Glück

Kindheitsbilder Der Großvater, dem ich als kleiner Junge die Fliegen von den Wasserbeinen scheuchte, weil ich dachte, dass sich Fliegen doch auf Aas setzen, und ...

Der Großvater, dem ich als kleiner Junge die Fliegen von den Wasserbeinen scheuchte, weil ich dachte, dass sich Fliegen doch auf Aas setzen, und dessen Bein ich natürlich schmerzhaft traf, der Großvater mit seinem länglichen Gesicht und seinem Nikotingeruch ist mir nur sehr schwach in Erinnerung. Er saß in einem Stuhl und der Fußboden bestand aus braungepinselten Dielen.
Ein paar Jahre später fuhr die Mutter mit dem Zug nach Süden. Ihr längliches Gesicht war verschlossen, der Mund ein Strich. Sie fuhr den Großvater begraben, in irgendeinem Frühjahr oder Herbst. Sie fuhr, als käme sie nie wieder. Der einzige Rote im Dorf ging den Weg, den jeder geht. Der einzige Nazi im Dorf war ihn ein paar Jahre früher gegangen, so hatte der Kommunismus gesiegt. Sie hatten sich geprügelt, der Kommunist und der Nazi, sie hatten sich geprügelt aber nicht verraten, in der einen Zeit nicht und in der anderen nicht. Das Dorf war stärker gewesen.
So konnte die Mutter erzählen, wie sie nach dem Krieg Zigarettenkippen gesammelt hatten, die Schwester und sie, und wie der Vater in der Zuckerfabrik arbeitete, bis das Magengeschwür ihn nach Hause zwang. Und von den Birnen konnte sie erzählen, von dem Baum hinterm Haus, nach dessen Früchten das ganze Dorf schielte und wartete, und wie der Vater die Birnen verkauft hatte, riesige saftige Birnen, als hatte der Baum sagen gewollt: Seht, es ist doch schön hier, in diesem Land, in diesem Dorf. Wartet ein bisschen, bis ihr nicht mehr hungern müsst, und bis dahin esst von den Birnen, einmal im Jahr. Der Großvater hatte aus zwei Brettern einen Verkaufstisch gemacht und verkaufte das Glück. Und das Dorf stand an und kaufte und aß und das Glück lief ihm links und rechts aus den Mundwinkeln, so voll war es, so prall, und wenn die Mutter erzählte, konnten wir die großen oder zusammengekniffenen Augen der Esser sehen, neben dem lachenden Gesicht des Großvaters, und in unseren Mündern sammelte sich Spucke und unsere Mägen drehten sich und machten seltsame Sprünge, als würden sie von den Birnen zu kosten bekommen. Die Mutter erzählte, wir saßen und manchmal sang sie den Vormittag in der Küche, und der Großvater, dem ich als kleiner Junge die Fliegen von den Wasserbeinen scheuchte, wird immer der Kaufmann bleiben, der das Glück zu verkaufen hatte, einmal im Jahr.

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