Ein linker Mythos sei schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, proklamierte Roland Barthes, als er vor einem halben Jahrhundert daran ging, die Ikonographie der Gegenwart auf ihren unbewussten Subtext abzuklopfen. Das dynamische Prinzip der Linken vertrage sich eben nicht mit den festgefrorenen Bedeutungscodes, die als Mythen des Alltags den Status quo zementieren: Der Mythos, wie schillernd er auch sein mag, galt ihm als Grabstein der Revolution. Nichts dokumentiert dieses Erlahmen des revolutionären Elans besser als die Erstarrung Che Guevaras zur sinnentleerten Ikone, deren Aufstieg - von der Agitpropkultur der 68er bis zur Popkultur der Postmoderne - einher ging mit dem Schwund ihres Gehalts. Schmückte sein Bild einst zumindest noch die Küchenwände studentenbewegter WGs, ziert es heute CDs, T-Shirts und Boxershorts von Teenagern, die kaum mehr eine Antwort wüssten, wessen Porträt da eigentlich zum Fixbestandteil ihres popkulturellen Zeicheninventars geworden ist.
Eine Ausstellung, die nach Hamburg und Rom nun auch in der "Kulturhauptstadt" Graz Station macht, bläst endlich den Staub von der Ikone und lässt unter der mythologischen Verkrustung wieder den Menschen Ernesto "Che" Guevara (1928-1967) erkennen. Zu danken ist dies einer vergessenen Passion des kubanischen Revolutionsführers: Eine ironische Volte des Schicksals wollte es nämlich, dass Che Guevara, dessen Porträt zur vermutlich meistreproduzierten Fotografie der Welt werden sollte, selbst ein leidenschaftliches (und durchaus professionelles) Nahverhältnis zur Fotografie gepflegt hat. Doch erst 1995 entdeckte der katalanische Kurator Josep Vicent Monzó in Havanna seinen fotografischen Nachlass. Die Ausstellung einer Auswahl von etwa 70 Fotoarbeiten gewährt nun einen Blick zurück in jene vormythologische Ära, als der Geist der Revolution noch lebendig war und die Rede von einer anderen Welt, die nicht nur nötig, sondern auch möglich sei, noch mehr als der zweckoptimistische Strohhalm im neoliberalen Sumpf.
Was in den bescheidenen Räumlichkeiten der Grazer Akademie für angewandte Photographie präsentiert wird, sind dabei keineswegs nur die mehr oder minder passablen Ambitionen eines Hobbyknipsers; der kunstbeflissene Comandante verstand offenbar auch als Fotograf sein Handwerk. Manche seiner Fotoserien entstanden sogar als professionelle Bildreportagen, als Auftragsarbeiten etwa für die Nachrichtenagentur Agencia Latina, für die Che Guevara 1955 die "Panamerikanischen Spiele" in Mexiko protokollierte. Schon Anfang der 50er Jahre hatte der damalige Medizinstudent aus Argentinien begonnen, seine Reisen, die ihn quer durch den südamerikanischen Kontinent führten, fotografisch zu dokumentieren. In der Wahl seiner frühen Motive lässt er den Gestus eines jungen Mannes erkennen, hinter dessen - noch durchaus bildungsbürgerlicher - Weltaneignung, wie sie in den touristischen Bildern aufscheint, sich bereits Ches zunehmende Politisierung abzuzeichnen beginnt: Die soziale Wirklichkeit rückt, in Form von Straßenszenen und Milieustudien, zunehmend in den Mittelpunkt. Lange bevor er sich mit der Waffe in der Hand Fidel Castro an die Seite stellte, trat der "Jesus Christus mit der Knarre" (Wolf Biermann) also der Welt mit der Kamera entgegen.
Doch auch nach dem Sieg der Revolution, als frischgebackener Industrieminister und Präsident der Nationalbank, nützte Che jede Gelegenheit, den Aufbau des neuen Kuba auch fotografisch festzuhalten: Das Entstehen von Industrieanlagen und Schulgebäuden, Baustellen, Schlote und Maschinenteile, nicht zuletzt der Blick des gefeierten kubanischen Funktionärs von der Tribüne auf die Menschenmenge (der Fidel Castro gerade einmal als Randfigur mit ins Bild nahm) verdrängen frühere Motive. Aus dem Jahr 1963 stammt eine Serie idyllisch anmutender Landschaftsbilder, die erst auf den zweiten Blick ihre wahre, bittere Bedeutung enthüllen: Unscheinbar ragen Holzkreuze aus dem Gestrüpp, errichtet für die Jahre zuvor während der Kämpfe gegen Batista gefallenen Weggefährten Guevaras. Und auch bei seinen Reisen, die er 1959 bei einer Welttournee als "Botschafter der kubanischen Revolution" zu bewältigen hatte, legte Che die Kamera kaum aus der Hand. Von Indonesien bis Saudi-Arabien entstanden Dokumente seiner diplomatischen Stationen: in ihrer statischen Komposition genau kalkulierte Farbaufnahmen archäologischer Monumente und Tempelanlagen ebenso wie wunderbar bewegte Straßenszenen in Schwarzweiß, die mit scheinbarer Flüchtigkeit das Großstadtleben Neu Delhis einzufangen vermögen.
Unübersehbar zeugen die Exponate, zumindest ein Teil davon Originalabzüge Guevaras, von seiner Suche nach künstlerischer Form. In Sujet wie Stil strebt er dabei noch in vielerlei Richtungen: vom warmen dokumentarischen Blick auf die Menschen über Selbstporträts, Landschaftspanoramen und Farbtableaus historischer Anlagen, die ins Malerische gleiten, bis zur kühlen Formabstraktion, in der die russische Avantgarde der dreißiger Jahre ihr lateinamerikanisches Echo zu finden scheint. Mag man nun in dieser Gegensätzlichkeit eine stilistische Unausgegorenheit ausmachen - oder einfach die diametralen Facetten seines visuellen Talents, die verschiedenen Bildserien scheinen in der Tat weniger in ihrem Stil- und Formbewusstsein als im (oft unausgesprochenen) Rahmen des Politischen ineinander zu greifen. Nie aber gerät der Comandante in Gefahr, sich vordergründiger Politplattitüden zu bedienen oder sich gar dem Diktat sozialrealistischer Doktrin zu beugen.
Das neu gewonnene Interesse am Fotografen im Revolutionär lenkt allerdings auch ab: Wo die Ausstellung kommentarlos allein die ästhetische Dimension der Bilder in den Blick nimmt, bleibt es einem selbst überlassen, sie wieder in ihren historisch-politischen Kontext einzufügen; schließlich sind Ches Fotos nicht zuletzt auch als künstlerisches Protokoll des kubanischen Aufbauprojektes zu sehen. So zeigt Guevaras Fotoserie über die Schulstadt Camilo Cienfuegos von 1959 eben mehr als bloße Bauarbeiten - sie ist nicht weniger als ein Dokument einer neuen Etappe der Revolution. Und gerade Guevaras perspektivisch avancierteste Arbeiten über Industrie- und Maschinenanlagen, die vor dem selben Hintergrund zu sehen sind, bekommt man, wie auch seine Sportaufnahmen, in Graz nur beim Durchblättern des Ausstellungskatalogs zu Gesicht.
Als Che Guevara schließlich 1967 der bolivianischen Armee (und der CIA) in die Hände fiel, gelangte mit seinem Tod die mächtigste Heiligenvita der Revolution an ihr grausames Ende. Die Legende will es, dass man im Marschgepäck des hingerichteten Che zwölf - bis heute unbekannte - Filmrollen fand, auf denen er die letzten Wochen seines Lebens festgehalten hatte. - Und wieder ist es die Fotografie, die in Form von Ches verschwundenem Vermächtnis zum Baustein seiner Mythologisierung wurde. Vielleicht hatte Roland Barthes hier ja ausnahmsweise Unrecht; vielleicht gibt es Zeiten, in denen selbst die Utopie der Veränderung ihre Mythen braucht, um die Durststrecken der Weltgeschichte zumindest in Form ästhetischer Codes zu überdauern - als leise Erinnerung an eine gegenwärtig beinahe vergessene Zukunft.
"Che - der Fotograf". Akademie für angewandte Fotografie, Graz, noch bis zum
27. September. Katalog: 47 Euro
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