Seit meiner frühen Jugend bin ich großer Fan von Deutschrap. Von Kool Savas, Alpa Gun, Bushido über Haftbefehl und besonders seit Celo & Abdis Mietwagentape 2010 habe ich eine innige Beziehung zu einem Genre entwickelt, dessen Inhalten ich mittlerweile zu einem großen Teil wenig abgewinnen kann. An neuen Alben komme ich dennoch nicht vorbei. Eines dieser neueren Alben, das am 24. Oktober 2018 erschienen ist, heißt Delikanlı. Es stammt vom Rapper Mert, einem unterdurchschnittlicher Youtuber-jetzt-Rapper. Das Album ist erwartungsgemäß schlecht, aber das Wort ließ mich nicht los – es erinnert mich an meine Jugend, an Vorstellungen von Männlichkeit und die Enge, die ich bis heute verspüre.
Delikanlı, gesprochen „Delikanle“, ist kein gewöhnlicher Begriff im Türkischen. Seine deutsche Übersetzung, „wildblütig“, wird ihm nicht gerecht. So klingt er wie ein Honig, süß, simpel und harmlos. Aber er kann sauer, komplex und giftig für Männer sein. Das türkische Äquivalent zum Duden, die Türk Dil Kurumu, ist sich nicht einig. Entweder bezeichne der Begriff einen jungen Mann, der seine Pubertät hinter sich gelassen hat, oder jemanden, der bei seinem Wort bleibt, aufrichtig ist und Ehre besitzt („Sözünün eri, dürüst, namuslu kimse.“). Bei Mert heißt es: „Damals Fachabi geschmissen, war kein Delikanlı. Heute schmeiße ich mit Geld, bin ein Delikanlı.“
Man spricht ungern konkret
Ich bin in einer als türkisch gelesenen* Familie in Deutschland groß geworden. Seit einigen Jahren – und besonders seit der Silvesternacht in Köln 2015 – wird heftig und häufig über Männlichkeit von als muslimisch markierten Männern und Jungen öffentlich diskutiert. Das geschieht in der Regel, ohne die Personen aus der Gruppe selber zu befragen. Stattdessen wird oft in rassistischer Weise über uns geredet. Ich habe als türkisch gelesene Männer zu ihrem Verhältnis zu dem Wort Delikanlı befragt. Beginnen werde ich aber bei mir.
Meine Familie und ich in Deutschland haben viel Kontakt zu unserer Familie in der Türkei. Wenn ich als 13-Jähriger dort im Urlaub – wie jedes Jahr – sechs Wochen verbrachte, flogen oft Begriffe durch den Raum, die ich nicht verstand. Das Wort Delikanlı fing ich öfters auf. Es erfüllte mich mit besonderem Stolz, wenn meine Tanten und Onkel feststellten, wie sehr ich ein Delikanlı geworden sei. Was genau mich dazu qualifizierte, wusste ich nicht. Aber ich sah in den Augen meiner Familie, wie egal das ist. Sie waren glücklich, deshalb war ich es auch. Ab diesem Zeitpunkt wurde dieser Begriff mein ständiger Begleiter. In vielen türkischen Soaps und alten Fernsehserien aus den 70er und 80er Jahren, die bei uns zu Hause andauernd zu sehen waren, lief der Begriff rauf und runter. Er definierte ein Männlichkeitsbild, über das ungern konkret gesprochen wurde. Cüneyt Arkın, Fernsehstar in der Türkei der 70er Jahre, galt als personifizierte Standfestigkeit und Hüter der Aufrichtigkeit. Er war ein Delikanlı.
2003 erschien in der taz ein Interview mit dem Sozialarbeiter und Erziehungswissenschaftler Hakan Aslan. Es trug den Titel „Ehre und hohle Männlichkeit“. Dort heißt es: „Die jungen Männer werden als Delikanlı, als ‚Wildblütige‘ bezeichnet, und in dieser Altersphase wird geradezu von ihnen erwartet, Grenzen auszutesten, um so ihren Mut und ihre Tapferkeit zu trainieren.“ Männlichkeit als Mutprobe? Hakan Aslan spricht weiter: „Der Begriff der Ehre ist eine der wichtigsten Triebfedern in der Sozialisation türkischer Jungen. Denn für die Verteidigung der Ehre der gesamten Familie ist der Mann zuständig, und das heißt auch der Sohn.“
War ich das? Davon war mir bis heute nicht so viel bewusst. In meinem Umfeld der als türkisch gelesenen Männer in Deutschland fragte ich, was der Begriff für sie bedeutet. Erstaunlich viele wollten teilen, was sie mit dem Wort verbinden. Einige, die ich fragte, wiesen auf den harmlosen Charakter hin. Ein Delikanlı sein hieße, man sei kein Kind mehr. So benannt zu werden, kann als Kompliment für das eigene jugendliche Aussehen verstanden werden. Grundsätzlich bezeichne das Wort jemanden, der sein Wort hält und Aufrichtigkeit als Grundlage seines Charakters definiert. Tugay, Ende 40, erklärte mir: „Es bedeutet, dass du nun ein neues Level erreicht hast, du bist kein Kind mehr. Erst viel später erkannte ich, dass du im Grunde genommen nur ein nicht logisch denkender, mit Testosteron angehäufter Möchtegernheld bist, welcher versucht, seinen Platz auf dieser Welt zu finden.“ Einige andere Äußerungen gingen in die gleiche Richtung. Der 29-jährige Erzieher Ümit meinte zu mir: „Delikanlı war für mich immer eine Bezeichnung für unkontrollierte Draufgänger. Einer, der unbedacht, aber entschlossen Sachen angeht oder redet.“
Schütze die Ehre
Mit jeder dieser Geschichten begreife ich mehr, was meine Tanten und Onkel in der Türkei mit dem Begriff meinten. Die erfolgreiche Qualifikation zum Delikanlı ist vielschichtig, aber immer durch Erwartungen gefüllt, die abweichenden Vorstellungen keinen Platz einräumen. „Delikanlı ol“ – sei ein Delikanlı – bedeutet: Bleib bei dir und deinem Wort, schütze dich und deine Familie, habe keine Angst, sei stark und sei dir deiner Rolle als Mann bewusst – wachse mit der Aufgabe, deine Ehre zu schützen. Das sind implizite, unausgesprochene Erwartungen, die mich ständig begleiten und meine Sicht auf mich selber vernebeln.
Diese Vernebelung ist auch nicht nur eine vorübergehende Phase, wie die Jugend eben oft voller Verwirrung und Suche nach Orientierung ist. So sagte mir mein Vater im Anschluss an unser Gespräch: „Delikanlı sein ist nichts, was nach der Pubertät aufhört. Es beginnt vielmehr erst dann und wird nicht nur ein loser Begriff, sondern ein Lebensstil.“ Er erzählte mir auch, wie er heute noch – teilweise im Spaß – ältere Männer als Delikanlı bezeichnet. Ernsthaft erklärte er mir wiederum, dass jemand sein Leben als Delikanlı gelebt habe, wenn er immer aufrichtig und sich selbst treu war und keine Angst vor nichts hatte.
Mannsein als Lebensaufgabe – sei einer, aber sprich nicht über Männlichkeit? Nachdem ich nun so viele verschiedene Meinungen zu dem Begriff gehört habe, wünsche ich mir, dass er auch anders verstanden werden könnte. Nicht als ein Ausdruck von Ehrfurcht, der das Reden über Erwartungen und Vorstellungen in Bezug auf die eigene Person unmöglich macht. Im Gegenteil, er müsste für eine ganz andere Form von Mut stehen, den Mut, sich mit Erwartungen auseinanderzusetzen, Rollenklischees zu verstehen und zu reflektieren – und auch mit der eigenen Familie darüber sprechen zu können. Denn der Austausch mit anderen ist immer die beste Möglichkeit, sich besser zu verstehen. Gerade dann, wenn das Selbst von anderen definiert wird.
Info
*Mit dem Ausdruck „als türkisch markiert“ bzw. „als türkisch gelesen“ bezeichnet man Menschen, die nicht notwendigerweise in der Türkei geboren wurden, denen diese Herkunft aber zugeschrieben wird
Kommentare 5
Soso.^^
Es könnte eines Tages Umstände geben, in denen Sie sich gerne der einstigen Tugenden erinnern - müssen. In unbequemeren Zuständen als den heutigen-hiesigen werden Sie kaum über Rollenklischees nachdenken und auf allseitige Beliebtheit schielen können, wie Sie sich das vorgenommen haben, sondern zupacken, wie Sies wohl mal gelernt haben.
"Seit einigen Jahren – und besonders seit der Silvesternacht in Köln 2015 – wird heftig und häufig über Männlichkeit von als muslimisch markierten Männern und Jungen öffentlich diskutiert. Das geschieht in der Regel, ohne die Personen aus der Gruppe selber zu befragen. Stattdessen wird oft in rassistischer Weise über uns geredet."
"Schütze die Ehre"
Jede zweite Türkin in einer Zwangsehe?
Nüchterne Aufklärung oder Rassismus und Fremdenfeindlichkeit?
Was sagen die Biodeutschen und paternalistischen Gutmenschen dazu?
»Die Deutsch-Türkin Necla Kelek enthüllt, dass mindestens jede zweite Türkin in Deutschland in einer Zwangsehe gehalten wird. Und niemand protestiert.«
»Necla Kelek ist eine ‚Türkin mit deutschem Pass‘. Sie ist die Urenkelin eines Mannes, der mit Sklavinnen für den Harem des Sultans sein Vermögen gemacht hat, und die Tochter eines Mannes, der ihre Mutter für zwei Ochsen gekauft hat. Für das Mädchen der ersten türkischen Einwandererwelle war der Preis der Befreiung hoch. Aber sie hat die anderen Frauen nicht vergessen. Die in Hamburg lebende Sozialwissenschaftlerin, die ihre Dissertation über den ‚Islam im Alltag‘ gemacht hat, hat jetzt nicht nur ihr Leben und das ihrer Familie aufgeschrieben, sondern ist auch in die Moscheen gegangen und hat mit den unsichtbaren Türkinnen gesprochen; mit denen, die unter dem Schleier verschwinden und für die die Moschee der einzige Ort ist, den sie außerhalb ihrer vier Wände kennen. Und sie deckt einen ungeheuren Skandal auf: Mindestens jede zweite Türkin, die heute in Deutschland einen Türken heiratet, ist eine ‚Importbraut‘ und Opfer einer arrangierten beziehungsweise Zwangsehe. Moderner Sklavinnenhandel, mitten in Deutschland – und alle gucken weg. {…}
EMMA, bereits am 1. Januar 2005: https://www.emma.de/artikel/necla-kelek-jede-zweite-tuerkin-einer-zwangsehe-265303
»Die Zwangs- und arrangierten Ehen der türkisch-muslimischen Gemeinschaft in Deutschland sind ein großes Hindernis für die Integration der Türken und anderer muslimischen Gemeinschaften in Deutschland. Und sie sind eine soziale Tragödie. Die deutschen Behörden haben nach Meinung der Rechtsprofessorin Dorothee Frings „lange Zeit die Familienbeziehungen von Migranten als quasi ‚exterritorial‘ betrachtet und damit auch das Problem erzwungener Ehen aus ihrem Blickfeld verbannt“. Zwangsheirat und arrangierte Ehen gehören verboten.«
14.12.2019, R.S.
++ Mannsein als Lebensaufgabe – sei einer, aber sprich nicht über Männlichkeit? Nachdem ich nun so viele verschiedene Meinungen zu dem Begriff gehört habe, wünsche ich mir, dass er auch anders verstanden werden könnte. Nicht als ein Ausdruck von Ehrfurcht, der das Reden über Erwartungen und Vorstellungen in Bezug auf die eigene Person unmöglich macht. Im Gegenteil, er müsste für eine ganz andere Form von Mut stehen, den Mut, sich mit Erwartungen auseinanderzusetzen, Rollenklischees zu verstehen und zu reflektieren – und auch mit der eigenen Familie darüber sprechen zu können. ++
Also, so manches, was Sie zum Thema Nachdenkliches schreiben, hat auch für schon immer hier gewesene "deutsche" Männer durchaus Bedeutung. Es gibt darüber auch zunehmend einen Diskurs. Leider aber werden so manche Erscheinungsformen "toxischer" Männlichkeit gern nur anderen "Ethnien" zugeschrieben. Kann man immer wieder beobachten. Es ist halt nur so bequem, das alles zu projizieren.
"Leider aber werden so manche Erscheinungsformen 'toxischer' Männlichkeit gern nur anderen "Ethnien" zugeschrieben. Kann man immer wieder beobachten. Es ist halt nur so bequem, das alles zu projizieren."
Merke: Männer und Frauen sollten keinen destruktiven Blödsinn verbreiten!
Aus der Wirklichkeit der unterschiedlich formierten und sozialisierten Gesellschaften:
Mein türkischer Auszubildender berichtete mir über seine Eheschließung in der Türkei. Er war damals 17. und seine Frau war 14. Jahre. Er sagte auf Nachfrage: Es war eine Liebesheirat. An der von beiden Familienclans arrangierten Ehe nahmen aus beiden (beteiligten) Dörfern an der Hochzeitsfeier und deren Verpflegung mit Speisen rund 1000. Personen teil. Die Hochzeitsfeierlichkeiten dauerten 4. Tage. So sein Bericht.
Natürlich wurde die junge Braut und der Bräutigam von den Patriarchen und Patriarchinnen beider Familien zusammengeführt, so wie es seit jeher die Tradition verlangt. Auf beiden Seiten spielten gewiss aber auch die jeweiligen bäuerlichen und wirtschaftlichen Interessen eine nicht untergeordnete Rolle.
Mein bäuerlicher Familienzweig im (hessischen) Vogelsberg geht auf die Zeit um 1750 zurück. Auch hier diente die Zusammenführung der Kinder und Brautleute vorrangig zu ökonomischen Interessen der Bauernschaft. So auch noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bekanntlich bedurfte in Westdeutschland die Tochter bzw. Frau erst in den 1970er Jahren nicht mehr die Zustimmung des Vaters bzw. Mannes, um rechtlich eigene Entscheidungen zu treffen. In der gesamten muslimischen Welt ist das noch heute undenkbar, das Kinder und Töchter/Frauen ihre unabhängige Entscheidung treffen können.
PS: In dieser Richtung, einer rechtlichen Unabhängigkeit der Frau, gab es eine diesbezügliche Entwicklung unter den Diktaturen im Irak, Libyen und Syrien. Bekanntlich wurde diese Entwicklung für die Gleichstellung der Frau von den westlichen Vereinigten NATO-Staaten, auch unter Parolen für ''Mädchenschulen'' (so Kriegsministerin Ursula von der Leyen) und für die demokratischen Rechte und die ''Gleichstellung der Frau'' in der muslimischen Gesellschaft nachhaltig beseitigt und vernichtet.
RS: Seit den 1960er Jahren, damals als Auszubildender, auch in beruflicher und freundschaftlicher Zusammenarbeit mit muslimischen Frauen und Männern [Türkei, Jugoslawien, Kurdenregionen, Irak, Iran, Syrien, Pakistan, Tunesien, Indien etc.].
14.12.2019, R.S.
https://www.youtube.com/watch?v=ad6nm_EcoP4
meaningful concept. constructive approach for gender discussions.