Die Kette von Attentaten auf die russische Zivilbevölkerung hat einmal mehr die Befürchtung verstärkt, dass eine Ausrufung des Ausnahmezustandes nicht mehr auszuschließen ist. Für die Parteien wären damit erhebliche Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit verbunden. Dies fällt schon deshalb ins Gewicht, weil sich bereits jetzt drei Wahlkampagnen zu überlagern beginnen: In den nächsten Monaten stehen Kommunalwahlen, die Abstimmung über die künftige Staatsduma und die Wahl eines neuen Präsidenten auf der Tagesordnung. Zwei wichtige Termine fallen sogar direkt zusammen: Am 19. Dezember - dem Tag des Votums zur Duma - wird auch der Bürgermeister von Moskau neu gewählt. Der Auftakt zum großen Wechsel - er steht im S
»Demokrat« als Schimpfwort
UMKÄMPFTE WEICHENSTELLUNGEN Mit der bevorstehenden Abstimmung über die Duma fällt eine Vorentscheidung über Jelzins Nachfolger, der Mitte 2000 gewählt werden soll
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t im Sommer 2000 bevor, wenn Boris Jelzin laut Verfassung unwiderruflich abtreten muss. Die Verwirrung ist groß: 139 Parteien, Gruppen und Bewegungen, von denen sich die Mehrzahl auch jetzt noch in beständiger Umgruppierung befindet, sind für die Dumawahl bisher registriert, und mehr als zehn Kandidaten sind als Bewerber um das höchste Staatsamt bereits in Position gegangen. Dies alles geschieht in einer Situation, da nach den jüngsten Attentaten diverse Katastrophenszenarien beschworen werden. Skeptiker warnen vor einer Manipulation der Abstimmung durch die Regierung Wladimir Putins, schlimmstenfalls einer Ausrufung des Ausnahmezustands durch den herrschenden Jelzin-Clan, der die Macht nicht abgeben will.Dies alles hinterlässt den Eindruck, als wiederhole sich das quälende Szenario von 1995, nach dem eine kommunistisch majorisierte Duma einer prowestlichen, sich demokratisch nennenden Regierung gegenüberstand - und beide sich fortan gegenseitig in Schach hielten. Doch allem Anschein zum Trotz - für die jetzigen Wahlen lassen sich erheblich veränderte Rahmenbedingungen beobachten: Seinerzeit erschien Boris Jelzin noch vielen als der Garant für Stabilität und eine Kontinuität im Wandel - heute ist der Präsident das Symbol der Krise, deren Ende man sich wünscht. Denn mit dem Finanzkrach vom August 1998 hat Jelzin auch die soziale Basis verloren, auf die sich seine Politik stützte - die Gewinner der Privatisierung und die neue Mittelschicht um sie herum.Kommunisten und Nationalisten - unspektakuläre Normalität Nachdem die Herausbildung finanz-industrieller Gruppen abgeschlossen ist, geht es nunmehr um eine produktive Nutzung der neuen Eigentumsverhältnisse. Nicht mehr das gemeinschaftliche Interesse von Räubern an der Aufrechterhaltung eines Status quo wie 1995, sondern der Wunsch nach einem effektiven staatlichen Rahmen für den Gebrauch des Erworbenen bestimmt jetzt die Auseinandersetzungen. Eine gemeinsame Strategie der »Großen Sieben« (der sieben führenden Bankhäuser Russlands) für weitere liberale Reformen wird es daher diesmal nicht geben; vielmehr kämpfen die Oligarchen untereinander um Einfluss auf staatliche Regulationsinstrumente und setzen dabei in Konkurrenz zueinander auf unterschiedliche Kandidaten.Ein Tycoon wie Boris Beresowski, der den Jelzin-Clan unterstützt, spielt dabei mit mehreren personellen Varianten gleichzeitig. Die in ihrer Existenz bedrohte Mittelschicht hingegen sucht eine neue politische Heimat, die ihr ein Überleben ermöglicht. Dazu kommt eine neue Bedeutung der Regionen als selbstständige föderale Subjekte. Die Krise vom August '98 beschleunigte die Separation regionaler Wirtschaftsräume vom zahlungsunfähigen Zentrum. Eine Sonderrolle besetzt in diesem Kontext die Stadt Moskau, die unter ihrem Bürgermeister Juri Lushkow ein eigenes Modell der wirtschaftlichen Verwaltungspatronage entwickeln konnte.1995/96 gelang es Boris Jelzin und seinen Wahlstrategen noch, sich als Hüter der Demokratie gegen die Rivalen aus dem kommunistischen und nationalistischen Lager aufzubauen. Heute ist diese simple Polarisierung nicht mehr möglich. »Demokrat« wurde zum neurussischen Schimpfwort, und Kommunisten wie Nationalisten etablierten sich als unspektakulärer Bestandteil der neuen Normalität. Zwischen den bisherigen Polen hat sich eine politische Mitte etabliert, deren Führer eine national-demokratische Stabilisierung als dritten Weg zwischen Marktwirtschaft und Kommunismus, zwischen Demokraten und Kommunisten, zwischen Ost- und West orientierung propagieren.Politisch ist der Platz des Wahlsiegers damit bereits beschrieben. Das gilt für die Wahlen zur Duma ebenso wie später die Entscheidung um das Präsidentenamt. Derzeit geht es nur noch darum, wer diesen Platz besetzen kann. Mit Sicherheit nicht die Kommunistische Partei Russlands (KPRF). Sie ist zwar nach wie vor die größte politische Gruppierung des Landes und neben den Liberaldemokraten Schirinowskis sogar die einzige mit einer effektiven Parteistruktur, einschließlich starker regionaler und lokaler Verankerung. Ihre Umfragewerte indes stagnieren bei der Marke von 22 bis 23 Prozent, was in etwa dem Ergebnis von 1995 entspricht. Parteichef Gennadij Sjuganow, gegen den Jelzin 1996 zur Stichwahl antreten musste, heißt trotz einer auf Null gesunkenen Popularität des amtierenden Präsidenten im Lande nur noch »der ewige Zweite«. Die KPRF hat heute eine stabile Funktion für die Integration der unzufriedenen ländlichen Bevölkerung, mittlerer, betagter Bürokraten und der Sowjetnostalgiker verschiedenster Coleur. Für die neuen Mittelschichten, die an der Entwicklung eines russischen Kapitalismus interessiert sind, ist ihr wesentlich auf Verteidigung sozialer Privilegien gerichtetes Programm nicht attraktiv, zumal es von einer opportunistischen Unterstützung der Regierungspolitik immer wieder Lügen gestraft wird. Der von den Kommunisten propagierte Wahlblock Pobjeda (Sieg) krankt an mangelnder Begeisterung früherer Bündnispartner. Ausgerechnet die Agrarpartei hat eine Wahlallianz abgelehnt; Gruppen des linken, neostalinistischen Flügels wollen außerdem einen eigenen Wahlkampf führen. Die angestrebte Konzentration »aller patriotischen Kräfte« wird so kaum zustande kommen.Noch weniger als die KPRF haben die liberalen Demokraten der früheren Radikalreformer um Jegor Gaidar, Anatoli Tschubais, Boris Nemzow, Sergej Kirijenko und andere, die sich in der Koalition Die rechte Sache zu einem Wahlblock gefunden haben, heute noch eine Chance. Schon 1995 verfehlten sie die Fünf-Prozent-Hürde. Vier Jahre später versuchen sie mit harscher Kritik am »bürokratischen Kapitalismus« Punkte zu machen, aber als Verantwortliche für die bisherige Privatisierung finden sie in der Bevölkerung kein Gehör. Die Absage von Ex-Premier Sergej Stepaschin an die Adresse dieses Kreises zeigt darüber hinaus, dass die Die rechte Sache auch für die zur Zeit herrschende Clique nicht mehr von Interesse ist.Schirinowski - für giftige Dämpfe aus dem Transformationskessel zuständig Interessant wäre allenfalls ein Bündnis zwischen den ehemaligen Radikalreformern und der Gruppierung Jabloko, dessen bekanntester Vertreter Grigori Jawlinski Leitfigur all derer ist, die den Anspruch auf demokratische Reformen jenseits von Privatisierungsraub noch nicht aufgegeben haben. Jawlinski allerdings lehnt jedes Zusammengehen mit den diskreditierten Figuren der »Privatisierungsbürokratie« ab. Mehr noch, er schloss sich demonstrativ mit Sergej Stepaschin zusammen, nachdem dieser Der Rechten Sache eine Absage erteilt hatte. Danach steht Jabloko weit oben auf der Popularitätsskala - ein Durchbruch zur Macht ist aber nicht zu erwarten. Die Bewegung kann froh sein, wenn sie ihre 6,9 Prozent von 1995 halten kann.Ebensowenig wird es gelingen, Wladimir Schirinowski und seine Liberaldemokratische Partei (LDPR) zum nationalistischen Buhmann aufzubauen, wie das 1995 geschah. Schirinowski erhielt damals 11,2 Prozent der Stimmen zur Duma. Auch heute liegt er mit dem fünften Platz für seine Partei und dem sechsten für sich selbst durchaus im mittleren Bereich des Spektrums. Das nationalistische Programm der LDPR, mehr noch das chamäleonartige Auftreten ihres Führers, der sich nach verbalen Attacken auf die Regierung immer wieder als Mandarin Jelzins empfiehlt, stellen jedoch weder für die Mehrheit der heutigen Traditionalisten, noch für die politisch entwurzelte Mittelklasse eine Alternative dar. Bestenfalls dürften ein paar Extremisten vom demokratischen ins nationale Lager wechseln. Die LDPR ist geblieben, was sie von Anfang an war: ein Ventil für die giftigen Dämpfe, die dem Transformationskessel Russ lands immer wieder entweichen.Neuerdings macht auch Alexander Barka show mit seiner unter faschistischer Symbolik agitierenden Russischen Nationalen Einheit (RNE) von sich Reden, vor allem, nachdem ihm Bürgermeister Lushkow ein Auftrittsverbot für Moskau verpasste. Chancen auf Mandate in der Duma hätte die RNE jedoch bestenfalls unter den Fittichen Schirinowskis. Das aber ließe Barkashows Führerehre nicht zu. Eher wird er versuchen, Teile der LDPR abzuwerben. Damit ist dieses Thema, das auch die Führer anderer nationalistischer Kleinstgruppen einschließt, beendet, bevor es hochkommen kann.Anwärter auf den Platz, der sich zwischen Kommunisten und Demokraten heute öffnet, sind die neuen Pragmatiker vom Kaliber Lushkows in Moskau oder Alexander Lebeds in Krasnojarsk, dies allerdings nur, sofern sie es schaffen, genügend Distanz zwischen sich und die aktuellen Machthaber im Kreml zu bringen.Mit der Gründung des Wahlblocks Vaterland/Das ganze Russland, der die von Lushkow gegründete Moskauer Bewegung Vaterland mit dem Bündnis einiger Gouverneuere zusammenführte und mit der Erklärung des allseits umworbenen Jewgenij Primakow, sich diesem Bund anzuschließen, haben sich die politischen Gewichte erheblich zugunsten Lushkows verschoben. Die KP - bis dato Spitzenreiter der wöchentlichen Prognose russische Meinungsforscher - wurde von dem neuen Bündnis prompt auf Platz zwei verwiesen, Lebeds Republikanische Volkspartei hielt zwar ihren Platz, verlor aber an Sympathiepunkten.Vieles deutet daraufhin, dass der Lushkow-Primakow-Block die bisherige Partei der Macht - seit 1995 gestellt von Ex-Premier Tschernomyrdin und seiner Bewegung Unser Haus Russland - ablösen könnte. Vorerst jedoch muss es dieser Allianz gelingen, sich glaubhaft von Boris Jelzin und seiner »Familie« abzugrenzen, wenn es einen dauerhaften Zuspruch der Wähler geben soll. Zu diesem Zweck wird der Moskauer Bürgermeister noch reichlich politischen Schlamm auf den Präsidenten werfen müssen. Und der dürfte sich - unterstützt vom ehemaligen Geheimdienstler Wladimir Putin - mit Enthüllungen über Juri Lushkows Moskauer Patronage revanchieren. So kann es durchaus geschehen, dass die herrschende Macht und ihre zur Zeit stärksten Herausforderer sich gegenseitig derart schwächen, dass lachende Dritte ins Spiel kommen. Vor diesem Hintergrund dürften die Versuche Boris Beresowskis zu verstehen sein, der sich kürzlich bemühte, ein Bündnis namens Muschiki (Aufrechte Männer) zustandezubringen, das verschiedene »starke Männer« unter anderem auch Viktor Tschernomyrdin sowie Gouverneure wie Alexander Lebed und seine Republikanische Volkspartei vereinen sollte. Das Bündnis gibt es bislang noch nicht; der Vorgang zeigt aber: Es ist noch alles im Fluss und gegenüber dem Moskauer Clan, der unter dem Mäzen Jelzin groß wurde, hat Alexander Lebed den Vorteil, sich aus der herrschenden Kreml-Clique nachweisbar und für alle erkennbar herausgehalten zu haben.
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