Demokratie und Tragödie. Die unstillbare Wunde

Der eröffnete Raum Der Theater- und Ausstellungsmacher Wolfgang Storch

FREITAG: Sie sind Mitbegründer der Heiner Müller-Gesellschaft und haben als Autor, Dramaturg und Regisseur dem institutionalisierten Theater bereits Ende der Achtziger den Rücken gekehrt. Seitdem sind Sie durch Aufsehen erregende Projekte wie »Die Nibelungen« im Münchner Haus der Kunst oder durch die - bis 2007 um die ganze Welt reisende - Ausstellung »Das szenische Auge« bekannt geworden. Noch in diesem Jahr wird Ihr neues Projekt »Für das Argument der Künste - Der eröffnete Raum« realisiert. Angesichts seines Titels stellt sich mir die Frage, was ist mit ihm gemeint?

WOLFGANG STORCH: Es geht nicht um Meinung, sondern um ein sehr komplexes Konzept. Ich konkretisiere es mal durch eine Erfahrung: Im 1911 erbauten Festspielhaus in Hellerau bei Dresden habe ich einen Raum erlebt, der einen Raum »eröffnet« hat. Er ist heute Ruine. Die Nazis haben ihn zur Polizeischule, die sowjetische Armee hat ihn zur Turnhalle degradiert. Dennoch hat dieser Raum seine Würde und Klarheit behalten. Ich habe darin inszeniert. Und da hat dieser Raum allen Beteiligten, Künstlern wie Zuschauern, vermittelt: Stell dich. Es ist von Bedeutung, dass du in ihn eingetreten bist.

Bezieht Ihr Projekt diesen Raum in Hellerau ein?

Diesmal nicht. Aber wir arbeiten mit den durch die Architektur geschaffenen Räumen an konkreten Orten, in die sich die Archäologie der Geschichte einschrieb, die für mich immer die Frage stellt: Wie wird sie erzählt? In den durch das 20. Jahrhundert zerstörten Raum des Festspielhauses platzierte ich die Edda-Version der Nibelungen. Und diese Inszenierung habe ich gemeinsam mit einem bildenden Künstler gemacht, da für mich schon vor der »Wende« eine Wende wichtig wurde, die für meinen Weggang vom institutionalisierten Theater entscheidend ist. Denn ab 1980 wird die Bildende Kunst führend, die das Theater im internationalen Maßstab ablöst.

Hat diese künstlerische Wende auch mit einer politischen zu tun?

Mit der Entpolitisierung des Theaters jedenfalls, und die ist vom unverhältnismäßigen Vorgehen des Staats gegen die RAF 1977 nicht zu trennen, danach kam eine große Erschöpfung auf.

In ihr zeigt sich die Bildende Kunst als politische Alternative?

Der Bildende Künstler macht eine Setzung. Im Raum. Und die ist absolut. Sie ist so, dass man sie nicht wegkriegt. Von ihr hat das Theater auszugehen und nicht umgekehrt, seine Räume mit Kulissen zu bebildern, denen eine wirkliche Materialität fehlt.

Hat diese künstlerische Wende den Status des Theaters verändert?

Seine Aufgabe zeigt sich wieder als die des Raums, in den alle Künste, die von ihrem Schaffen her immer Bildende Künste sind, eintreten können.

Das heißt, ihr neues Projekt konzipiert ein Gesamtkunstwerk, mit dem Sie sich ja auch in Ihren historischen Forschungen zum wechselseitigen Verhältnis von Theater und Bildender Kunst auseinandersetzen ...

Soweit ich den Begriff des Gesamtkunstwerks in den vergangenen 200 Jahren der deutschen Geschichte untersucht habe - und genau diese Zeit verstehen wir ja unter dieser Geschichte, stellte ich fest, dass das Gesamtkunstwerk bei Hölderlin und bei Wagner ...

Bei Hölderlin?

Der »Empedokles« war als Festspiel für eine Schwäbische Republik verfasst, doch der Aufstand 1799 fiel aus, die französische Armee unterstützte ihn nicht: Hölderlin verschwindet im Neckarturm, ebenso muss Wagner 1848 ins Exil, also - das Gesamtkunstwerk stellt diese eine Frage: Wie kann ich, wenn keine Revolution möglich ist, als Künstler an einer Renaissance arbeiten? Und die Antwort auf diese Frage, das ist das Gesamtkunstwerk als Raum.

Der auf dem Theater das Exil kompensiert?

Ich muss mir Raum schaffen. In Deutschland heißt Gesamtkunstwerk aber auch, dass ich mich einer Gesamtheit gegenüber verantwortlich fühle. Dem Zuschauer wird seit 200 Jahren etwas von den Künsten übergeben, womit er im Sinne einer Renaissance weiterarbeiten kann. Denn er ist der eigentliche Produzent. Das ist der manifeste Gedanke in der Geschichte des Gesamtkunstwerks. Meyerhold formuliert ihn 1907 fast gleichzeitig mit dem 1911 erbauten Festspielhaus in Hellerau, dessen Gründung von der Arbeiterbewegung ausgeht. Kunst ist die Arbeit aller. Um den Betrachter zum Produzenten zu machen, setzt sie die dafür notwendigen Mittel ein, damit dieser Vorgang stattfinden kann.

Das Theater stellt im Konzept des Gesamtkunstwerks also einen Raum für die Künste da bereit, wo die Gesellschaft einen neuen Raum mit Gewalt schaffen würde. Die Künste treten zur Brechung der Absolutheit von Machtkämpfen an, sie transformieren den Tod, die Tötung, in ein Geschehen, für das eine Gesamtheit verantwortlich ist: Es ist ihr Werk, das Werk aller als Kunstwerk ...

Bei Wagner, und auch bei Heiner Müller, ist das die Arbeit der Kunst. Für das Theater ist entscheidend, dass es Öffentlichkeit herstellen kann und muss. Die Tragödie, wie sie durch Aischylos geschaffen wurde, ist von der Demokratie nicht zu trennen: 70 Jahre Polis, dann ist es vorbei. Von Aischylos bis Euripides geht es immer um die Rückkehr zur Demokratie, die Aischylos´ Zeitgenosse Perikles, der anfängliche Radikal-Demokrat, durch seine im Krieg gegen die Perser verabsolutierte Machtposition verrät. Darum geht es in diesen 70 Jahren auch um das mythische Pendant von Perikles: Um Sophokles´ Ödipus, der die Stadt zwar einerseits von der Sphinx befreit, die er aber andererseits der Pest preisgibt.

Die griechische Tragödie konstituiert demnach die Doppelfigur der heutigen Politik, dass derjenige, der die Menschenrechte verkündet, auch das Massaker durchzieht?

Ödipus ist Erretter und Zerstörer - und Siegfried ist auch der Lindwurm. Man kann diese »mittelalterliche« Schicht der Antike auch anders lesen, aber ich möchte sie in diesem Kontext diskutieren, was die Tragödie für die Herstellung von demokratischer Öffentlichkeit leisten sollte. Denn der Chor in der Tragödie ist immer an eine Situation in der Demokratie gebunden. Die Alten im »Ödipus« haben das Wissen, das sie aber nicht zur Entscheidung bringen können. Darum konfrontieren sie die Zuschauer mit einem Chor auf der Bühne, der zwar so viel weiß wie sie, aber nicht handeln kann, und ich glaube: Das ist der Punkt. Deshalb braucht es den Zuschauer als Produzenten.

Der sich nicht passiv zu einer Passion verhält, sondern aktiv zu einer Tragödie ...

Die Passion rekurriert auf eine Gemeinde ...

... die im Kirchenchor den Text nicht kennt, den sie singt ...

Sie ist auf einen Stellvertreter bezogen, und das ist etwas anderes, als der Chor der Tragödie. Die Matthäus-Passion als eigentliche Form der deutschen Selbstdarstellung hat einen Raum geschaffen, den es zu durchbrechen und weiterzuführen gilt, um von dieser Stellvertreterfigur freizukommen. Genau in diesem Sinn verstehe ich, dass Künstler Räume schaffen, um für diese Verantwortung Argumente zu liefern, das heißt, sie werden selbst zum Argument. Das ist ihre Aufgabe, dafür müssen Räume geschaffen werden, die, öffentlich und szenisch, eine Aufforderung an alle Künste sind, in das Theater einzutreten. Nicht in das Theater als Theater, um einen Shakespeare zu sehen, sondern in das Theater als Form, die die Künste zusammenbringt, und die in ihrer Grundform in Europa die Aufgabe der griechischen Tragödie erfüllt. Dafür müssen die Kräfte der Künstler zusammengeführt werden.

Und wie sollen sie die demokratische Funktion des Chors in der griechischen Tragödie übernehmen, ohne dass sie im »übertragenen« Sinn eingesetzt wird?

In unserer Ausstellung »Das szenische Auge« zeigt sich das Bedürfnis nach der Schaffung eines Chors, das heißt, sehr viele Arbeiten manifestieren den Wunsch nach einem Zuschauer, der als Chor antwortet, der ein aktiver Teil des Kunstwerks wird und der sich, wie in der griechischen Tragödie, an seiner Vermittlerfunktion beteiligt ...

Worin ist sie von einer Stellvertreterfunktion unterschieden?

Darin, dass der Künstler kein Repräsentant des Zuschauers ist, kein Protagonist, der den Rezipienten einerseits ersetzt, andererseits exiliert. Beide sind an der Tragödie beteiligt, die immer eine Wiederkehr der Toten ist. Ihnen muss Recht gegeben werden, das sagt Aischylos in den »Persern«, die er zehn Jahre nach der Schlacht bei Salamis schreibt. Ihm geht es um das Leid auf beiden Seiten. Heiner Müller hat das auf den Gang von Kohl und Reagan zum SS-Friedhof in Bitburg bezogen und darüber in einem Gespräch mit Alexander Kluge ausgeführt: »Wer gestorben ist, hat Recht. Das muss in einer Klage aufgehoben werden. Der Krieg, der geführt worden ist, darf nicht über den Tod hinaus geführt werden. Nur so wird die Möglichkeit geschaffen, etwas Neues zu beginnen, denn die ausgegrenzten Toten leben weiter. Sie werden auf die Ideologie reduziert, der sie verfallen sind, womit diese Ideologie nie an ihr Ende kommt.« Ich finde diese Position ganz entscheidend dafür, wie weit unsere Gesellschaft fähig ist, mit dem, was geschehen ist, umzugehen, und die Kraft für etwas Neues zu haben.

Müller ist in Ihrem Projekt »Für das Argument der Künste - der eröffnete Raum« zentral platziert.

Sein Stück »Philoktet« ...

Die Tragödie über die Wunde, die sich nicht schließt ...

... wird in Athen, wo alles herkommt, in Moskau, der Stadt des Umbruchs, und in Sao Paolo, wo sich die Abhängigkeit der Dritten Welt von Europa plötzlich umkehrt, durch drei Regisseure inszeniert. Die verschiedenen Ergebnisse werden im Industriegebiet Deutschlands zusammengeführt: Im Ruhrgebiet, in der »Zeche Zollverein« ...

Die stillgelegt ist.

Ihr unterminierter Ort kann also jetzt zur Sprache kommen, in der es immer um diese Wunde geht.

Die mit ihrem ungestillten Blut aber auf die fehlende Kraft für etwas Neues verweist?

Sie ist in den Körper und in den Ort eingeschnitten. Deshalb haben wir auch eine Einladung an wichtige Architekten auf der Welt ausgesprochen, in der Stadt, die sie die ihre nennen, eine Wunde zu bezeichnen: Dort, wo der Konfliktherd ist, dort, wo verschiedene Schichten aufeinandertreffen, dort, wo die Geschichte historischer Momente aufbricht. Diese Stelle groß zu machen, ihr einen Raum zu schaffen und darin künstlerische Manifestationen stattfinden zu lassen - Performances, Installationen und Sonden in die Archäologie der Landschaften hinein, ebenso in die der Städte und ihrer Architektur: Durch bildende Künstler, Komponisten, Musiker, Schriftsteller, Philosophen, das ist unser Programm, in dem es immer den Ort dieser Wunde zu treffen gilt, ihren nicht vernarbten Raum.

Die Wunde als Einheit von Zeit, Ort und Handlung einer Tragödie der Geschichte, die nicht zugelassen ist, während sich die Heere der unbetrauerten Toten, auch in der Gestalt von Lebenden, zu einem Angriff über den Tod hinaus formieren, der unfaßbar ist. Was machen Sie mit dem, was beim Schnitt in den Körper und in den Ort herausgeschnitten und einer Zeit- und Ortlosigkeit überliefert wird, für die »niemand« verantwortlich ist?

Wir halten ein Requiem ab.

Eine Totenmesse, die der Passion angehört?

Der Chor in der griechischen Tragödie ist immer spezifisch. Er kann auch mit einer einzigen, an alle anderen gewandten Stimme sprechen. In unserem Projekt ist es die Stimme einer in der arabischen, europäischen und amerikanischen Welt lebenden, »ortlosen« Dichterin aus Beirut, die fast 80-jährig ist: Ihr Gedicht über das Massaker im palästinensischen Dschenin war an der Stadtmauer von Ramallah aufgehängt. Aus ihm wird ein Requiem, ein Chor für die unbetrauerten Toten entstehen, der die Wunde stillt.

Dieses Requiem steht also im Gegensatz zum »Philoktet«?

Bei Heiner Müller geht es um die Aussichtslosigkeit oder die Endsituation von Politik. Er beschreibt den Zustand von heute, dass sich die Politiker in einem Spiel oder in einem Austausch verfangen haben, aus dem sie selber keinen Weg mehr herausfinden.

Und er arbeitet ohne Chor ...

Eben deshalb ist das Spiel ja aussichtslos. In Sophokles´ »Philoktet« gibt es einen Weg heraus, aber bei Heiner Müller nicht mehr. Er zeigt ein Endspiel, in dem alle schuldig sind, und am Schluss bringt Neoptolemos Philoktet um. Es gibt keine Figur, die einen Weg rausfindet, sondern es wird ein Mechanismus gezeigt, der sich selbst ermordet.

Das Gespräch führte Gerburg Treusch-Dieter

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