Der Chemiker Sir Harold W. Kroto (ursprünglich Krotoschiner) wurde 1939 in Großbritannien geboren, seine Eltern stammten aus Berlin und flohen in den dreißiger Jahren vor den Nazis. Für die Entdeckung der so genannten Fullerene des Kohlenstoffs ("Fußballmolekül") erhielt er, zusammen mit Robert F. Curl und Richard E. Smalley, 1996 den Nobelpreis für Chemie. Er war eng befreundet mit Joseph Rotblat, dem letzten am Manhattan-Projekt beteiligten Wissenschaftler, und engagiert sich seit vielen Jahren für atomare Abrüstung. Seit 2004 lehrt er an der Florida State University und kritisiert nachdrücklich die britische Wissenschaftspolitik.
FREITAG: Pugwash jährt sich im Juli zum 50. Mal. Wie sehen Sie die Rolle von Pugwash für die Zukunft?
HAROLD W. KROTO: Meine Sicht auf Pugwash ist sehr stark durch meine langjährige Freundschaft mit dem Gründer und Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat geprägt. Sein Werk sollte fortgesetzt werden, das heißt weltweit auf die Gefahren der Atombewaffnung aufmerksam zu machen und dafür zu sensibilisieren, dass die Atomwaffengefahr heute im Vergleich zum Kalten Krieg eher größer als kleiner geworden ist. Diese Aufgabe scheint mir fast noch bedeutender zu sein als die vielfältigen diplomatischen Gespräche, die Wissenschaftler - oft hinter verschlossenen Türen - mit den Regierungen der Welt führen. So notwendig diese gerade auch im Nahen Osten sind, um die Sprachlosigkeit und den Hass zu überwinden, ersetzen sie doch nicht eine weltweite Stimmung für nukleare Abrüstung. Daran sollte Pugwash verstärkt arbeiten. Ob dazu seine frühere Abgrenzungspolitik gegenüber anderen Organisationen im Wissenschaftsbereich hilfreich ist, wage ich - wie übrigens auch Rotblat in seinen letzten Jahren - zu bezweifeln. Möglicherweise hat Pugwash auch ein Demokratiedefizit. Von vielen Kollegen wird beispielsweise die dortige Einladungspraxis beklagt. Wer entscheidet, ob Mann oder Frau zu den berühmten Pugwashis gehören darf? Sachkompetenz allein kann doch nicht entscheidend sein, denn es handelt sich bei Fragen der Abrüstung auch immer um politische Probleme und damit auch um Wertungen und vielleicht auch um Radikalität.
Wenn man über Pugwash spricht, muss sich fast zwangsläufig die Frage nach der Atombewaffnung anschließen. Sehen Sie in absehbarer Zeit Aussichten für die nukleare Abrüstung?
Diese Frage kann wohl keiner mit ja oder nein beantworten, zu oft haben wir in den letzten Jahre auch radikale internationale politische Veränderungen erlebt, ich erinnere nur an die Politik Michail Gorbatschows oder - in negativer Hinsicht - an George Bush. Ich hätte mir das, was Bush tut, nicht im Traum mehr vorstellen können. Es könnte sein, dass es erst eine Katastrophe geben muss, bevor die Menschen vernünftig werden. Aus meiner Sicht sind Menschen wirklich eher dumme Geschöpfe, das gilt leider auch und vielleicht besonders für die politischen Führer. So wie wir derzeit Energie herstellen und nicht daran denken, die globale Erwärmung zu stoppen, befinden wir uns auf einer Achterbahn. Auf einer gefährlichen Achterbahn fahren wir auch mit unseren Atomwaffen. Als britischer Staatsbürger muss ich dabei natürlich besonders an die unselige Rolle von Tony Blair denken, der mehr als 40 Milliarden Pfund für neue Atomwaffen und U-Boote ausgeben wollte. Ein Wahnsinn angesichts unseres Gesundheitssystems oder der Situation der Wissenschaft, die ich ziemlich genau beurteilen kann. Im Ernst: Ich bin sehr skeptisch was die Nuklearbewaffnung angeht und habe wenig Hoffnung - aber - vielleicht irre ich mich ja.
Sie setzen eher auf die Bildung der jungen Menschen?
Ja, meine Hoffnung ist die Bildung. Deshalb kümmere ich mich auch eher um Bildungsthemen als um Friedensfragen. Mir scheint es, dass die Zahl der Nobelpreisträger, die sich für den Frieden engagieren, größer ist als die, die sich mit Bildung beschäftigen. Ich bin im Laufe meines Forscherlebens immer wieder darauf gestoßen, dass es überall auf der Welt an elementaren Bildungsvoraussetzungen fehlt. Daraus ist sozusagen mein zweites Beschäftigungsfeld entstanden. In Zukunft wird die Entwicklung von emanzipatorischen Curricula und die Arbeit mit Kindern unterschiedlicher Rassen und Religionen vielleicht so etwas wie mein Lebenswerk werden.
Wie verbinden Sie neue Technologien und neue Medien mit Ihrem Bildungsauftrag?
Aus meiner Sicht sind die neuen Technologien unglaublich interessant. Es ist offensichtlich, dass Initiativen wie etwa Wikipedia über Nacht ganze Enzyklopädien wie die Britannica abgelöst haben. In dieses Mammutwerk floss alles Wissen ein, aber es kann dennoch nicht mehr mit Wikipedia konkurrieren. Ganz chancenlos wäre sie, wenn man den Menschen die Möglichkeit geben würde, über ihre Leidenschaften und über ihr Wissen zu berichten. Natürlich gibt es auch Fragen der Glaubwürdigkeit, aber schon in der Chemie und in anderen Naturwissenschaften sind das keine wirklichen Fragen mehr. Es gibt eine Wahrheit, die unabhängig vom Menschen ist. Es gibt einfache quantenmechanische Grundlagen, die für jede Gesellschaft gelten - ganz gleich ob sie auf dem Mars lebt oder auf der anderen Seite der Galaxie. Und ich finde, Kinder sollten das lernen. Es gibt allerdings auch wichtiges Wissen, das nicht auf der natürlichen und physischen Welt basiert. Wir haben Dinge erfunden und soziale, ethische und moralische Kämpfe ausgefochten. Und wir machen große Fehler in der Art und Weise wie wir miteinander umgehen. Auch die Religion hat Wahrheiten geformt. Das sollten wir anerkennen, auch wenn es sich um Erfindungen handelt, die von Menschen gemacht wurden.
Gehen Sie davon aus, dass die Technologien und deren Möglichkeiten die Welt sicherer und friedlicher gestalten?
Ich denke, sie sind unsere letzte Chance. Wir leben in einem globalen Informationszirkus, und es wäre gut, wenn junge Menschen realisieren, dass junge Menschen in anderen Regionen der Welt nicht anders sind als sie selbst. Wir sind auf dem Weg zu einer größeren Freiheit des Einzelnen und der gesellschaftlichen Emanzipation, und wir können die Welt vielleicht noch vor einer nuklearen oder einer Umweltkatastrophe retten. Ein großes Problem ist, dass sich junge Menschen in ihren nationalen Identitäten abschotten und isolieren. Schauen Sie sich nur die jungen Migranten in England an, die nichts anderes als ihr beschränktes Umfeld kennen und die damit verbundenen Denkweisen.
Wie können wir verhindern, dass die neuen Technologien missbraucht werden, beispielsweise durch das Militär?
Eine friedliche Wissenschaft hat es in der Menschheitsgeschichte nie gegeben, und vielleicht ist das für Wissenschaftler und Ingenieure die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wir brauchen einen radikalen Umbau der gesamten Forschungsausgaben, der Schwerpunkte von Forschung und Lehre, neue Paradigmen. Außerdem müssen Wissenschaft und Forschung demokratisiert werden. Wenn wir beispielsweise das Internet dazu nützen könnten, ein Netzwerk für kritische und freie Denker in der ganzen Welt aufzubauen, wäre schon viel gewonnen. Doch wir sollten auch anerkennen, dass selbst in den USA nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung frei denkt, die Religiösen sind in der Mehrheit, und sie denken genauso irrational wie viele Leute im Nahen und Mittleren Osten. Die spannende Frage ist also, ob das Internet die vernünftig denkenden Menschen zusammen bringen kann. Ich halte das für möglich, denn die Wissenschaft ist dafür eine Brücke.
Wie wird die Wissenschaft in 50 Jahren aussehen?
Das weiß ich wirklich nicht. Die Entwicklung der Technologien hat in den letzten Jahrzehnten einen unglaublichen Sprung gemacht. Unsere Fähigkeit, über Computer und Handys zu kommunizieren, hat sich immens erweitert. Nicht alle technischen Probleme - zum Beispiel bei der Energiegewinnung - sind gelöst. Ich denke aber, die wirklichen Schwierigkeiten ergeben sich nicht aus der Technik, sondern eher daraus, wie wir Menschen damit umgehen. Es ist tragisch, dass die enormen Investitionen in Wissenschaft und Technik - ob nun in den USA, in Russland oder China - ausgerechnet der Militärtechnologie zugute kommen. Ich kann einfach nicht verstehen, weshalb Menschen dazu nicht einfach "Nein" sagen. Das ist sicher in der menschlichen Rasse codiert und entspricht unserem Wunsch nach Sicherheit. Für mich ist aber nur eine Philosophie des Zweifelns glaubwürdig. Den Wunsch nach Sicherheit dagegen halte ich für gefährlich. Doch leider verlangen die Menschen geradezu verzweifelt nach Sicherheit. Ich habe eine Utopie und viele Ängste. Meine Utopie richtet sich auf die Wissenschaft, die in ihrer besten humanistischen Tradition mithilft, die großen Probleme von Hunger, Umwelt und Entwicklung zu lösen. Ich setze auf die Begeisterung junger Wissenschaftler und Forscher, mitzutun, diese Welt zu retten. Meine Zweifel beziehen sich auf die Machtstrukturen und die Politik, die Wissenschaft genau zum Gegenteil antreibt. Und viele Wissenschaftler machen, aus welchen Motiven auch immer, dabei mit, Todesmaschinen zu entwickeln, die als Bestandteil einer Vernichtungspolitik diesen Planeten ruinieren. Die Folgen werden vielleicht nicht mehr von dieser, aber von der nächsten Generation zu erleiden sein. Ich fürchte, die Tendenz geht eher in die zweite Richtung, ich habe aber meine Hoffung - und deshalb engagiere ich mich in Bildungsprogrammen - noch nicht aufgegeben.
Das Gespräch führte Reiner Braun
Übersetzung: Dirk F. Schneider
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