Der Augenblick des Begehrens

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Kurt Drawert

Kontakte



Ich sah sie, hinter den Scheiben,
sprechen, sah, daß sie allein war,
und daß sie mich nicht sah,

und sprach. Hinter ihrem Fahrzeug,
am Straßenrand,
zwei zueinander geneigte,

sehr nackte Platanen,
dahinter die tote Fabrik,
darüber der Mond,

etwas gesplittert vom Winter.
Dann fuhr ich weiter,
und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin.

Alles beginnt mit einer Sekunde der tiefen Überraschung. Soeben noch angeschlossen an die Automatismen einer Autofahrt, befindet sich das lyrische Subjekt urplötzlich im existenziellen Ausnahmezustand. Ein flüchtiger Blick genügt - und der Raum des Alltags ist verlassen und ein Glücksversprechen blitzt auf. Der Autor hält sich zurück, er beschränkt sich auf das lakonische Protokollieren einer scheinbar unsensationellen Zufallsbegegnung, verzichtet auf jedes schmückende Beiwerk.
Diese Beschränkung auf scheinbar flüchtige Augenblicke und minimale Anlässe hat bei Kurt Drawert Methode. Er bevorzuge, hat der Autor einmal gesagt, eine diskrete Poesie, die "jede große transzendierende Geste und Weltumschlungenheit" meidet. Hier skizziert er in knappen Strichen eine kleine Szene, die gerade durch Aussparung jedweder Gefühlsbewegung an Intensität gewinnt. Das handelnde Subjekt ist die Schaulust des Autofahrers, dessen Blick auf eine fremde Frau fällt. Der Alltag des hektischen Unterwegsseins auf Autobahn oder Landstraße wird für einen Moment unterbrochen und aus dem leeren Strom des Transitorischen ein Augenblick scharfkantig heraus geschnitten, die Bewegung stillgestellt - und obwohl sich nichts ereignet, hat sich für das Ich einige erfahrungsprägende Momente lang die Welt verändert. Die flüchtige Begegnung zweier Menschen, die sich zufällig an irgendeiner Landstraße treffen, bleibt zwar ohne Folgen. Sie bleiben verkrochen in ihre Fahrzeuge, die Distanz wird nicht aufgehoben, und kurz nach der Begegnung trennen sich ihre Wege wieder. Eine Begegnung im emphatischen Sinn findet nicht statt, denn es kommt weder zu einem Austausch der Blicke noch zu irgendeiner Form verbaler oder nonverbaler Kommunikation. Das Gedicht Kontakte zeigt also zunächst das Misslingen der Kontaktaufnahme.
Eine doppelte Barriere vertieft die Distanz zwischen dem Ich und der fremden Frau. Da ist nicht nur die trennende Scheibe, traditionell die Fläche unzähliger narzisstischer Spiegelungen, die eine unüberwindbare Grenze setzt. Da ist auch das offenbar intime Gespräch der Fremden mit einem unsichtbaren Partner, das vermutlich mit einem Handy geführt wird, dem Signum einer narzisstischen Kommunikationskultur.
Als etwas überdeutliches Symbol für das Begehren des Betrachters wird ein Naturzeichen herbei zitiert: die "sehr nackten Platanen", deren "Zueinander-Geneigtsein" hier gewissermaßen Modell steht für den ersehnten "Kontakt" des Mannes mit der Frau. Das ist eine sehr alte Wunschphantasie. Die Natur wird einmal mehr in einem Identifikationsakt als lyrischer Imaginationsraum genutzt - sie ermöglicht auch die Rückwendung des sprechenden Ichs auf sich selbst. Freilich: Es ist, im Unterschied zu früheren literarischen Perioden, keine heile Natur mehr, mit der sich der Dichter in Beziehung setzt, sondern es sind ein "gesplitterter Mond" und eine "tote Fabrik", die als Verfallskulisse dienen.
Zurück bleibt der begehrende Blick des Ich, das sein automatisiertes Alltagshandeln, die Autofahrt, fortsetzt. Aber der Augenblick des Begehrens hat sich tief eingegraben, er blendet den Blick und löscht für einige Momente auch jede Erinnerung: "und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin". In einem fast lebens-verändernden Augenblick hat sich hier das "punktuelle Zünden der Welt im Subject" (Friedrich Theodor Vischer) vollzogen - der Augenblick der Poesie.

Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf, lebt in Darmstadt. Das Gedicht Kontakte ist dem Band Frühjahrskollektion entnommen, der soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist.


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