FREITAG: Sie haben vor kurzem den "Anerkennungspreis des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung" verliehen bekommen. Was verbinden Sie eigentlich als Mensch aus Pécs, aus dem Norden Südosteuropas kommend, mit dem Terminus europäische Verständigung?
GABOR CSORDAS: Verständigung bedeutet für mich, eine Reihe von Missverständnissen zu riskieren. Es gibt kein Verstehen und keine Verständigung ohne Missverständnisse. Das Missverständnis ist regelmäßig. Verstehen als eine Aufgabe gibt es nur, wenn zwei oder mehrere Menschen verschiedene Kulturen und verschiedene Ideen haben. Deswegen wollen und sollen sie einander verstehen. Das aber geht nur durch Missverständnisse. Das größte Problem der europäischen Kulturen ist seit einigen Jahren, dass die Leute glauben, sie könnten die Missverständnisse vermeiden. Man kann sie nicht vermeiden, es sei denn, man kapselte sich ab. Das ist es, was die Nationen Europas für einige Jahrhunderte getan haben. Oder kann man sie verleugnen, so tun, als ob man eine gemeinsame Sprache hätte und alles für kein Problem halten. Das wird jetzt oft getan.
Was das Europäische an der Verständigung betrifft, so meine ich, dass diese ganze Situation sehr charakteristisch für Europa ist. Man kann keinen anderen Kontinent finden, auf dem die verschiedenen Kulturen und Religionen so dicht beieinander leben und lebten, so sehr eine von der anderen beurteilt werden und wurden und dadurch so sehr auf Verständigung angewiesen sind.
Hat die Situation, die durch die Kriege nach dem Tode Titos entstanden ist, dieser Verständigung ein neues Gesicht gegeben? Sind neue Verständigungsschwierigkeiten entstanden oder handelt es sich um Verständigungsschwierigkeiten im Rahmen des Üblichen?
Die Balkan-Kriege waren kein Sonderfall. Sie waren das Ende der großen europäischen Kriege. Es gab ja nicht nur den Zweiten und den Ersten Weltkrieg, sondern eine ganze Reihe von Kriegen, die durch die Schwachsinnigkeit des Nationalstaates als Prinzip hervorgebracht worden sind. Das beginnt mit den Kriegen zwischen Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert. Der letzte dieser Kriege fand jetzt in der entferntesten Ecke Europas statt, auf dem Balkan. Doch diese Kriege sind keine originär balkanische Eigentümlichkeit. Schließlich ist die Idee der Nationalstaaten nicht in Osteuropa entstanden, sondern in Westeuropa. Außerdem haben sich die Nationalstaaten in Westeuropa nur allmählich entwickelt, und es gab Zeit für den Geist, eine gewisse Immunität zu entwickeln. Auf dem Balkan aber gab es keine Zeit, die Dinge geschahen zu rasch.
Seit dem 1. Mai sind bestimmte Staaten im Norden des Balkan in die EU als volle Mitglieder aufgenommen worden. Dadurch entsteht dort eine Trennungslinie, die Schengener Linie. Der ungarische Schriftsteller Ottó Tolnai hat sie mit dem Symbol des durchgeschnittenen Regenwurms umschrieben. Ist das eine Linie, die Ihrer Meinung nach mehr der Verständigung oder mehr der Konfrontation dienen wird?
Tolnai sprach aber auch über einen "endlosen Flamingo", den wir als Symbol einer transgressiven, die Grenzen wieder übersteigenden Identität verstehen dürfen. Im übrigen sind die Kräfte so wenig proportional, dass es keine Konfrontation geben wird, jedenfalls keine kriegerische. Dazu sind diese Balkanstaaten viel zu arm. Aber es wird eine große Probe der Verständigung sein. Die Region, die jetzt ausgeschlossen wird, kann sehr leicht für ein Jahrhundert draußen bleiben. Ungarn, Polen, Tschechien waren zwar nicht im besten Zustand, aber sie konnten sich zusammenreißen, um ein gewisses Niveau zu erreichen, das noch eben in der Europäischen Union akzeptabel war.
Gehen Sie nicht davon aus, dass auch diese ausgeschlossenen Länder in einigen Jahren in die EU integriert werden?
Es gibt dort absolut kein Bürgertum, keinen Mittelstand. Auch in Ungarn und der Slowakei ist der Mittelstand sehr schwach, weniger vielleicht in Tschechien und in Polen. Dort existieren noch die Reste eines Bürgertums, das sich am Ende des 19. Jahrhunderts zu entwickeln begann. Doch die beiden Weltkriege haben es zerstört. In Ländern wie Serbien, Kroatien, Albanien gibt es absolut keine Mittelschicht, die kann man auch nicht in acht Jahren produzieren.
Würden Sie es so einschätzen, dass diese Länder, die vom 1. Mai an das in der EU vereinigte Europa mit bilden, die Aufgabe haben, die südlicher gelegenen Balkanstaaten im westlichen Sinne zu "europäisieren"?
Jetzt sagt man in Europa, dass diese Staaten in einigen, vielleicht in acht Jahren auch in die Europäische Union aufgenommen werden. Ich halte das für einen politischen Slogan. Ich fürchte, dass niemand diese Aussage ernst nimmt. Man sollte diese Gesellschaften verändern. Nun enthält aber jede Tradition immer mehrere, aber auch nicht endlos viele Keime der Weiterentwicklung wie des Untergangs. Wie kann man aber eine Gesellschaft ohne solche Keime zu einer Entwicklung zwingen? Ein Beispiel: Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich die Amerikaner, die besten deutschen Traditionen zur Wirkung zu bringen. Das war möglich, da es diese Traditionen gab. Doch was machen die Amerikaner jetzt im Irak? Gibt es da etwas hervorzubringen? Darüber muss man nachdenken.
Ich glaube, dass dieser Balkan, diese Südostecke Europas nicht so einfach an diese Europäische Union angegliedert werden kann. Diese Union ist nicht vereinbar mit diesem Balkan! Das heißt nicht, dass die Union das Modell, das Vorbild ist und der Balkan sich daran anzupassen hat. In Westeuropa möchten viele die ganze Welt gern so arrangieren, dass sie punktgenau zu uns an dieser Stelle und zu dieser historischen Entwicklung passt, an der wir zufällig angekommen sind. Warum? Warum sollen sie denselben Weg machen? Und außerdem: Was ist Europa? Gilt als Europa nur dieses westliche Modell? Sollte man nicht auch einige der Facetten seiner Realisierung überprüfen?
Bei der europäischen Integration geht es merkwürdigerweise überhaupt nicht um geistige Fragen, sondern um wirtschaftliche Dominanz. Für wen ist es eigentlich günstig, wann welches Land integriert oder auch ausgeschlossen wird? Ich erhoffe mir gerade von den ost- und südosteuropäischen Ländern einen Kultur- und Toleranzschub! Auch wenn der Balkan zuletzt von Bürgerkriegen erschüttert war, diese europäische Region hat doch eine lange Tradition toleranter Koexistenz sehr unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen ...
Es gibt ein Problem mit der traditionellen Toleranz auf dem Balkan, die wirklich für lange Jahrhunderte beispielhaft war. Sie beruhte auf ganz unterschiedlichen Gründen, weil das Phänomen nicht auf der Idee der Toleranz begründet war, nicht darauf, dass die Menschen zu ihren eigenen Überzeugungen ein ironisches Verhältnis gehabt hätten. Das ist das Resultat eines langen philosophischen Prozesses in Europa, der im Übrigen die Konsequenz mehrerer blutiger Religionskriege war. Im Osten hingegen gab es immer Zwischenzonen, Übergangszonen, gemischte Populationen zwischen den Kulturen und Regionen. Die mediatisierten diese Unterschiede. Die Menschen hatten sehr viele Möglichkeiten, diese Unterschiede kennen zu lernen, sie einzukalkulieren. Aber das kam von der täglichen Praxis, nicht von der philosophischen Einsicht. Mit den Nationalstaatsgrenzen, mit den Bevölkerungsabwanderungen und der gewaltsamen Assimilierung sind diese Übergangszonen verloren gegangen. Zu der Frage, ob diese Region ökonomisch ausgenutzt oder gar ausgebeutet wird: Das mag zwar sein. Aber wäre es nicht erheblich besser, von den mehr oder weniger zivilisierten multinationalen Firmen ausgebeutet zu werden als durch einen korrumpierten Ex-Freund von Milosevic oder Ceausescu?
Für einen Westeuropäer hat ein Ausflug in Ihre Region durchaus auch den Charme einer romantischen Zeitreise. Ich finde dort Verhältnisse vor, von denen ich annehme, dass sie auch in Westeuropa so oder ähnlich waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und hier kann ich sie nun in der Praxis nachvollziehen. Das hat fast den Aspekt der Rückkehr in eine alte Heimat. Können Sie mit dieser Impression etwas anfangen?
Man sagt oft, Europa sei nivelliert und diese modernen Staaten seien alle ziemlich einheitlich. Ich selbst habe es so empfunden, dass sowohl zwischen Serben und Kroaten wie auch zwischen Deutschen, Holländern und Franzosen solch typische, große Unterschiede bestehen. Ich denke eher, wenn man in Europa nach Osten fährt, geht man nicht zurück in der Zeit, sondern reist einfach in eine andere Mentalität. Also, Europa ist nicht nur verschieden, es kann nicht anders sein. Dies ist der Kontinent der Unterschiede. Wahrscheinlich können diese östlichen Unterschiede keiner Zeitskala zugeschrieben werden.
Ich denke, dass eine Reise in den Osten Europas für einen Westeuropäer das Flair einer Zeitreise haben kann, weil diese Regionen noch viel ruraler sind. Gerade die landwirtschaftlichen Dinge sind im Westen in den letzten Dekaden arg zerstört worden. Das ist bei Ihnen noch ganz anders. Ich merke auch, dass die osteuropäischen Dichter ihr Vokabular beispielsweise sehr gern aus dem Dorf schöpfen. Das Dorf hat bei uns seinen Stellenwert verloren. Bei uns ist mehr die Metropole angesagt und Anonymität, während im Osten mehr die Familie herrscht. Das alles meine ich mit dem Begriff "Zeitreise in die Romantik".
Vieles von dem, was Sie andeuten, könnte man in 20 Jahren verändern, so dass die Maschinen, die Straßen, die Industrie genauso aussehen wie in Holland. Das ist möglich. Aber die Leute werden über den Staat, über die Gemeinschaft ganz sicher nicht so denken wie in Holland. Sie werden ihre ganz verschiedene Mentalität noch immer haben. Sie werden die Institutionen, die ähnlich sein können wie die im Westen, in anderer Weise betreiben und nutzen.
Macht der Terminus Demokratie in diesem Zusammenhang einen Sinn?
Nein. Natürlich gibt es die juristische Grundlage, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Es gibt auch die Gewaltenteilung wie in den Vereinigten Staaten und Europa. Dennoch gibt es eine Menge Dinge, die zwischen den USA und Europa absolut verschieden sind. Diese Unterschiede gibt es auch innerhalb Europas, und auf sie sollte man mehr achten. Beispielsweise spricht man in Europa fast gar nicht von der Konstitution, der Verfassung. Sondern man spricht über Gesetzgebung. In Amerika ist die Konstitution alles, die Gesetzgebung hat nicht denselben Stellenwert. Die USA sind aus einer Konstitution entstanden, die EU aber wird nur von einer undurchsichtigen Gesetzgebung zusammengebunden und hat noch immer keine wirkliche Konstitution, keine Verfassung! Das ist ein riesiger Unterschied. Alle Absicherungen sind sowohl dort wie hier eingebaut, aber das ganze System ist doch sehr verschieden. In Amerika ist viel die Rede von Republik, in Europa mehr von Demokratie. Auch diese Feinheiten sollte man bei der europäischen Integration bedenken.
Das Gespräch führte Eve Marie Kallen
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