Der freiwillige Herr W.

ALG II "Arbeit" und "Beschäftigung", Neigung und Pflicht - ein amtlicher Irrgarten. Am Ende ein Fahrraddiebstahl

Wetzlar, 1. August 1972, Leitz-Werke, Maschinensaal:Herr W. schaut auf die große Werksuhr. Heute wird er Punkt 16.30 Uhr das Werksgelände verlassen. Zufrieden betrachtet er sein Tagwerk: 33 Ringe - drei Serien à elf Stück -, güldene Messing- und schwarzblaue Edelstahlringe, 10 und 20 mm Durchmesser, geschrägt, auf zwei Hundertstel Millimeter genau gedreht. Herr W. dreht nämlich Kleinstserien für die Leitz-Forschung - an einer mit Handkreuz bedienten Revolverdrehmaschine, uralt und für die Ewigkeit gebaut. Er säubert den Revolverkopf, den Querschlitten und Mehrfachmeißelhalter, fegt die Späne aus der Fangschale, bringt die Ringe zur Endkontrolle und die Inneneck- und Abstechdrehmeißel zum Schärfen und schließt seinen Innen- und Außenmessfühler samt Tiefenlehre und Drehherz ein. Zehn Minuten vor Betriebsschluss betritt Herr W. den Betriebshof. Vor dem Betriebstor warten schon bestimmt 200 KollegInnen. Sekündlich werden es mehr. Das schwere Eisengitter ist heruntergelassen. Die anschwellende Menge steht locker über den Hof verteilt. Je mehr halb Fünf herannaht, desto näher drängt sie zum Gitter. Noch zwei Minuten: Eine riesige Menschentraube hängt am vergitterten Ausgang. Herr W. hält sich abseits. So eilig hat er´s nicht. 16.30 Uhr! Die Betriebssirene heult, der Werkschutzmann kommt aus seinem Kabuff, schiebt sich zum Tor vor, der Elektromotor surrt, das Tor hebt sich ratternd. Die Menge drückt geballt nach vorne, die erste Reihe bückt sich, schlüpft kopfvor unten durch, rennt zum Parkplatz, reißt die Autotüren auf und rast mit quietschenden Reifen davon; Hunderte im Laufschritt hinterher - sie reißen den üblichen Flugblattverteilern ihre maoistischen und trotzkistischen Betriebszeitungen aus der Hand. Verteiler rennen seitlich mit, verteilen in die rennenden Reihen, rennen zurück und wieder mit. In drei Minuten ist alles vorbei. Dann schreitet Herr W. durchs Tor in seine freie Zeit.

Vierunddreißig Jahre später. JobCenter Berlin, 1. August 2006, draußen vor der Tür: Herr W. hat mit seinem Ansprechpartner auf acht Uhr terminiert. Das Umsteigen geht nahtlos, und so steht er um 7.30 Uhr - viel zu früh - vor dem abgeschlossenen JobCenter-Eingang. Dort warten schon 20 Erwerbslose, und minütlich werden es mehr. Den üblichen anarchistischen Flugblattverteiler ignorieren alle. Viertel vor Acht drängen sich 80 Erwerbslose vor der Dreh- und Eingangstür. JC-MitarbeiterInnen schieben sich ihrem Schreibtisch entgegen, in engster Tuchfühlung zu den erwerbslosen Leibern: "Bitte, lassen Sie mich durch, bitte!" Man lässt sie durch. Wehe denen, die zu pünktlich sind: Um fünf vor acht Uhr gibt es kein Durchkommen mehr. Herr W. hält sich abseits. So eilig hat er´s nicht.

Jenseits der Glasfront drei Sicherheitsleute. Jetzt rutscht der Zeiger auf acht Uhr, keine Sirene ertönt, der Sicherheitsdienst bewegt sich - ein Ruck geht durch die Menge, er steigt zu den Türen hinab, schließt auf, weicht zurück, die Türen geben nach, die Wartenden stürzen in die Türen hinein, rennen die Treppe hinauf, nehmen zwei, drei Stufen auf einmal. Hin zum zentralen Empfang stürzen sie und in ihre Eingangszonen. Die vierzellige Drehtür dreht sich schnell und unablässig - wusch, wusch, wusch -, pro Drehtür-Zelle trippeln drei Kunden nebeneinander im schnelldrehenden Rund bis hin zur erlösenden Öffnung, um dann mit dem Strom von der Türe her hinauf zu hasten. In Sekunden ist alles vorbei. Herr W. - angelernter Dreher a. D., Band- und Sachbearbeiter a. D. - durchschreitet als Letzter den Eingang.

Herr W. will seinen Ansprechpartner treffen, und sein Besuch hat einen tiefen Grund: Das neue Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende tritt heute in Kraft. Lange schon grübelt Herr W. über den Neuerungen. Die Sanktionen für Arbeitsverweigerer - erstmals bis null Euro möglich - erschrecken ihn, aber er sucht ja eine Stelle, und sein Ansprechpartner würde ihn zu keiner Arbeit zwingen, die er verweigern müsste, glaubt Herr W.

Tief trifft ihn, was sich in punkto Bedarfsgemeinschaft ändert. Herr W. bekommt nämlich seit vielen Jahren des Öfteren Besuch: von seiner lieben Freundin. Zwar wohnen sie getrennt, aber selbst wenn er mit ihr zusammenwohnen würde, hätte bis heute das Amt beweisen müssen, dass dem so ist; ab heute müsste er dem Amt beweisen, dass dem nicht so ist. Und Kontrollbesuche sind jetzt nicht nur erlaubt, sie sollen sein, auch unangemeldete.

Wenn seine Freundin kommt, zieht sie immer ihre Schuhe aus und stellt sie ins Treppenhaus. Jedermann sieht: Sie ist da. Eines Tages erwischt sich Herr W. dabei, wie er die Schuhe wegnehmen und in die Wohnung stellen will. Er schämt sich. Es klingelt, er öffnet reflexhaft, ärgert sich über seinen Reflex, jemand steigt - tapp, tapp, tapp - die Treppe hoch. Herr W. gerät in Panik, bildet sich ein, dass gerade jetzt ein Kontrolleur käme, und der sähe dann die Damenschuhe, und er müsse beweisen, dass sie nur auf Besuch sei. Als dann auch noch seine liebe Nachbarin - wie immer - ihm und "Ihrer Frau" einen "Schönen Tag" wünscht, versäumt er den Gegengruß, es fährt durch seinen Kopf: Was, wenn der Kontrolleur die Nachbarin befragte? Soll er mit ihr reden und sagen, dass sie nicht seine Frau sei?

Der Anlass für seine Vorsprache beim JobCenter ist ein anderer. Herr W. hat nämlich eine Idee, wie er sich unter dem Fortentwicklungsgesetz fortentwickeln könnte, und die kommt ihm, als er liest, dass auf die Neuen im Club der ALG-II´ler ab dem 1. August ein drastischer Willkommensgruß wartet: ein Sofortangebot einer Arbeitsstelle oder Qualifikation, und zwar als Leistung zur Eingliederung in Arbeit. Also spricht er zu seinem Ansprechpartner: "Ich hätte gern ein Sofortangebot einer Arbeitsstelle oder Qualifikation gemäß § 15a SGB II." Für den Fall, dass er keine Stelle anbieten könne, würde er ihm eine nennen, eine selbstgeschaffene, gemeinnützige.

Der Ansprechpartner meint, das ginge nicht, weil Herr W. kein Neuer sei.

"Warum bekommen die Neuen eine Arbeitsgarantie und nicht die alten und uralten Kunden?" fragt Herr W.

"Wieso Arbeitsgarantie? Ich garantiere nicht Arbeit dem, der sie will. Ich biete Arbeit an, wenn ich kann, und die Annahme des Sofortangebots gehört zu den Pflichten der neuen Antragsteller", sagt der Ansprechpartner.

"Für mich als Arbeitsfreiwilliger ist der Anspruch auf ein Sofortangebot Dasselbe wie eine Arbeitsgarantie!"

Der Ansprechpartner sieht das anders: "Wenn der Antragsteller freiwillig mein Sofortangebot akzeptiert, ist er kein Arbeitsfreiwilliger, sondern erfüllt nur seine ihm per Gesetz auferlegte Pflicht."

Herr W.: "Wenn ich aber freiwillig und auf Dauer gemeinnützig arbeiten will, warum bin ich dann nicht dem Antragsteller gleichgestellt, der nur seiner gesetzlichen Verpflichtung, gemeinnützig zu arbeiten, nachkommt? Muss ich nicht sogar höher geachtet werden, weil ich ohne gesetzlichen Zwang handle?"

"Weil Ihre freiwillige Arbeit nicht als Integrationsleistung gewertet werden kann."

"Seit wann ist denn Gemeinwohlarbeit nicht gesellschaftsintegrierend?"

"Bei der Integrationsleistung geht es nicht um eine Integration der Gesellschaft, sondern um Ihre Integration in die Gesellschaft, und die geschieht durch Erwerbsarbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt! Ich erkenne diese Ausrichtung nicht, wenn Sie auf Dauer in einem Beschäftigungsverhältnis verharren wollen."

Herr W. sagt: "Was ich arbeiten will, ist für mich keine Beschäftigung; ich erledige vernachlässigte staatliche Aufgaben; was ich machen will, erledigten früher regulär Angestellte. Meine Stelle ist heute nur deshalb zusätzlich, weil die Regulären gestern wegrationalisiert wurden."

Antwort: "Ich verstehe unter Erwerbsarbeit das, was in einem regulären Arbeitsverhältnis geschieht, alles andere zählt als Beschäftigung, auch wenn es früher Erwerbsarbeit war."

Beide schweigen jetzt. Zögernd sagt der Ansprechpartner: "Gut, wenn Sie freiwillig auf dieser gemeinnützigen Stelle arbeiten wollen, dann können Sie das meinetwegen tun. Wir nehmen das als Eigenanstrengungen zur Wiedereingliederung in Arbeit in Ihre Eingliederungsvereinbarung auf. Das muss ich mir aber erst noch von oben genehmigen lassen."

Herr W. horcht auf: "Und wie steht es mit der Bezahlung."

Der Ansprechpartner, säuerlich, als ob Herr W. etwas beschmutzt hätte: "Wenn Sie freiwillig arbeiten wollen, kann ich Ihnen nichts bezahlen! Freiwilligenarbeit muss klar getrennt bleiben von den Zusatzjobs und anderen Beschäftigungsformen, entweder so oder so, keine Vermischung!"

Herr W. fühlt sein Blut wallen: "Wenn ich aber auf angebotenen Stellen meiner Arbeitspflicht nachkäme, dann würde meine Arbeit bezahlt werden?"

"Ja, sie würde bezahlt werden können, weil Sie dann unter dem Gesichtspunkt der Wiedereingliederung in den Ersten Arbeitsmarkt beschäftigt wären."

"Aber ich täte doch Dasselbe!"

Ja, aber sein Ziel sei ein anderes, sagt der Ansprechpartner, er wolle doch auf Dauer in einem öffentlichen Beschäftigungsverhältnis bleiben und aus Steuergeldern bezahlt werden.

Herr W., erregt: Erstens gebe es für ihn keinen Ersten Arbeitsmarkt, weil niemand sein Arbeitsvermögen kaufe, und zweitens: Er, der Ansprechpartner, würde doch auch auf Dauer in einem öffentlichen Amt arbeiten und Staatsaufgaben erfüllen, und bezahlt würde er aus Steuergeldern!

"Ja, das stimmt, aber ich erfülle sie regulär in einem Arbeitsverhältnis, weshalb das, was ich mache, keine Beschäftigung ist, sondern Erwerbsarbeit."

"Was aber, wenn Sie wegrationalisiert werden würden, und ich freiwillig dasselbe mache wie Sie?" fragt Herr W.

"Dann würden Sie das, was ich jetzt regulär arbeite, unbezahlt machen müssen, weil die Hauptvoraussetzung für eine Integrationsleistung fehlt, nämlich die Ausrichtung Ihrer freiwilligen Tätigkeit auf die Aufnahme einer Erwerbsarbeit."

Alles war gesagt und beide schwiegen.

Herr W. seufzt auf und will gehen. In des Ansprechpartners Brust ringen zwei Seelen, und jetzt springt er über seinen Schatten: "Also gut - das mit der Bezahlung Ihrer freiwilligen Beschäftigung werde ich prüfen, kommen Sie im September noch einmal vorbei."

Herr W. sitzt im Bus und fährt nach Hause. Hoffnungsfroh-enttäuscht starrt er durch die gescratchten Scheiben. Mitbürger sitzen verstreut im Fahrgastraum. Seine Heimathaltestelle naht. Einige stehen auf, drängen sich mit ihm um den Ausstieg. Da sieht Herr W. einen jungen Mann auf seinem Fahrrad - Grundvoraussetzung seiner erwerbslosen Mobilität - davonfahren. Erregt schiebt er sich zur Tür durch. Herr W. hat es eilig. Der Fahrer öffnet, fuuuuiiiiiiihhhh-pfotz, die Tür gibt nach, Herr W. stürzt aufs Pflaster hinaus und rennt mit großen Schritten, schlenkert die Arme und rennt und rennt - umsonst, sein geliebtes Fahrrad verschwindet am Horizont.

Fortsetzung folgt: Wie Herr W. versucht, sich als Freiberufler fortzuentwickeln, um endlich das gesetzlich-verlangte Leben aus eigener Kraft zu führen, und wie er durch glückliche Fügung und Unterstützung dank regulärer Exekutiv-Organe sein Fahrrad wieder bekommt.


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