Bilder verfälschen die Realität. Videosequenzen, selbst unbewegte Abbildungen können sich tief ins Bewusstsein der Menschen einbrennen, ohne dass die es überhaupt merken. Ich hielt mich selbst eigentlich für immun gegen die immer wiederkehrende Beschreibung Venezuelas als kriselnder, gar scheiternder Staat, dessen Bevölkerung aufbegehrt. Doch ich war nicht vorbereitet auf das, was es gerade in Caracas zu erleben gibt: Wie wenig das tägliche Leben von den Protesten betroffen und wie groß die Normalität ist, die in weiten Teilen der Stadt herrscht. Auch ich hatte mich von den Medienbildern blenden lassen.
Wenn darüber berichtet wurde, dass sich die Armen nicht an Aktionen der rechtsgerichteten Opposition beteiligen, so ist dies untertrieben: Es sind nicht nur die Armen, die nicht mitmachen. In Caracas liefern sich nur in einigen wenigen reichen Vierteln wie Altamira Gruppen von Demonstranten nächtliche Schlachten mit den Sicherheitskräften und werfen Steine oder Brandbomben oder beides.
Läuft man aus dem Arbeiterbezirk Sabana Grande ins Zentrum, fehlt es an äußeren Zeichen, die bezeugen, dass Venezuela vor dem Kollaps steht und die Organization of American States (OAS) intervenieren sollte, wie es US-Außenminister John Kerry verlangt. Erste Barrikaden sehe ich in Los Palos Grandes. Hier wohnen Besserverdienende, von denen die Protestierenden hofiert werden. Jeder Versuch, die Barrieren zu entfernen, wird von den Anwohnern behindert und kann gefährlich werden: Man erzählt, es seien bereits Menschen erschossen worden, die versucht hätten, Absperrungen wegzuräumen. Doch selbst hier geht das Leben weiter. Am Sonntag ist der Parque del Este voller Familien und Jogger. Vor Hugo Chávez musste man hier Eintritt zahlen. Die Anwohner seien enttäuscht gewesen, als die weniger gut Betuchten plötzlich durch die Anlagen flanierten, erfahre ich.
Mein Trip ist nur kurz, erlaubt aber einen Realitätsabgleich. Was ich sehe, lässt mich an der Behauptung zweifeln, ein sich stetig verschärfender Mangel an Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern sei der Grund für die Unruhen. Diese Angebotslücken treffen besonders die arme und arbeitende Bevölkerung. Die Bewohner von Vierteln wie Los Palos Grandes und Altamira, in denen ich Zeuge von Protesten bin, haben Bedienstete, die sich für sie anstellen. Sie verfügen über das Einkommen wie auch den Platz, Vorräte zu lagern.
Das Milliarden-Geschenk
Diesen Leuten geht es nicht schlecht – im Gegenteil. Ihr Einkommen ist gestiegen, seit Chávez 2004 die Ölindustrie verstaatlichen ließ. Die Regierung macht ihnen teure Geschenke: Jeder Kreditkarteninhaber – die Armen also ausgenommen – hat pro Jahr Anspruch auf 3.000 Dollar zu einem subventionierten Wechselkurs. Diese Devisen lassen sich derzeit für das Sechsfache des Kaufpreises veräußern. Mit anderen Worten, die ohnehin schon Privilegierten erhalten jährlich einen mehrere Milliarden Dollar schweren Zuschuss. Und dennoch boykottieren sie „das System“?
Dass die innere Konfrontation zum Klassenkampf neigt, stand selten infrage. Derzeit gilt es mehr denn je. Die Zeremonie, mit der am 5. März des Todes von Hugo Chávez vor einem Jahr gedacht wurde, versammelte Zehntausende aus der Arbeiterschicht. Teure Designer-Mode oder 300-Dollar-Schuhe sah man nicht. Was für ein Kontrast zum aufbegehrenden Establishment von Los Palos Grandes. Dort prangt auf einem 40.000-Dollar-Jeep der Slogan des Augenblicks: SOS VENEZUELA!
Außenminister John Kerry weiß, auf welcher Seite er steht. Als ich in Caracas bin, schießt er gerade von Washington aus Salven gegen Staatschef Maduro ab und wirft ihm vor, eine „Terrorkampagne gegen die eigene Bevölkerung“ zu führen. Deshalb müssten laut Interamerikanischer Demokratiecharta der OAS Sanktionen verhängt werden. Es ist Kerry vielleicht entgangen: Nur Tage vor seiner Drohung verwarf die OAS eine Resolution seines Landes gegen Venezuela, und 29 von 34 Mitgliedsländern erklärten sich „solidarisch“ mit Maduro. Nur Panama, Grenada, Honduras und Kanada stellten sich an die Seite der USA. Artikel 21 der OAS-Demokratiecharta bezieht sich übrigens auf die „verfassungswidrige Störung der demokratischen Ordnung eines Mitgliedsstaates“, etwa den von Washington legitimierten Militärputsch im Sommer 2009 gegen den gewählten Präsidenten Manuel Zelaya von Honduras.
Staatspapiere im Aufwind
Kerrys „Terrorkampagnen“-Rhetorik ist realitätsfern, denn die Wahrheit in Sachen „innerer Terror“ lautet: Seit Beginn der Proteste sind in Venezuela mehr Menschen durch Gewalt von Demonstranten ums Leben gekommen als durch Sicherheitskräfte. Laut Center for Economic and Policy Research (CEPR) starben im März sieben Venezolaner durch teils monströse Hindernisse, die von Demonstranten aufgebaut worden waren. Ein Motorradfahrer wurde durch einen über die Straße gespannten Draht enthauptet. Zudem starben fünf Nationalgardisten.
Was die Gewalt der staatlichen Ordnungsorgane betrifft, hat die Polizei mindestens drei Opfer zu verantworten – zwei Demonstranten und einen Pro-Regierungsaktivisten. Oppositionspolitiker bringen die Regierung mit drei weiteren Todesfällen in Verbindung, doch in einem Land, in dem pro Tag im Schnitt 65 Morde begangen werden, ist definitive Klarheit schwer zu haben. Nur so viel steht fest – es warten 21 Polizisten wegen mutmaßlichen Fehlverhaltens auf ein Verfahren. Für eine „Terrorkampagne“, wie Kerry meint, spricht das nicht.
Tatsächlich ist eine ökonomische Stabilisierung in Sicht. Im März sank der Dollarpreis auf dem Schwarzmarkt drastisch, als die Regierung einen marktbasierten Wechselkurs einführte. Staatsanleihen brachten von Mitte Februar bis Mitte März durchschnittlich 11,5 Prozent Rendite, die höchste im Bloomberg Dollar Emerging Market Bond Index. Für die Opposition keine erfreulichen Indikatoren, auch weil sich bis zur nächsten Wahl – dem Parlamentsvotum Ende 2015 – die Versorgungslage entspannen und die Inflation abgeflaut sein dürfte. Auch hat die Taktik des permanenten Aufruhrs einen Nebeneffekt: Gegnerischer Druck eint die Chavisten.
Mark Weisbrot ist Guardian -Kolumnist
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