Wer die Max-Ernst-Ausstellung in der Berliner Neuen Nationalgalerie besucht, muß eine visuelle Schleuse passieren, wo im schnellen Wechsel Arbeiten des Künstlers auf standardisierte Leinwandformate projiziert werden.
Ob die Ausstellungsmacher auf eine zeitgeistige Relevanz der Ernst'schen Bildvisionen mediengerecht verweisen wollen oder vorsorglich eine Art Wahrnehmungsanpassung betreiben, bleibt ein Rätsel.
Irritationen sind nicht zu erwarten. Der Künstler Max Ernst ist längst ein Klassiker, dessen Âvre in Deutschland hinlänglich präsentiert und publiziert worden ist. Werner Spies, Kunsthistoriker und Freund des Künstlers, hat daran beachtlichen Anteil. Wie die gegenwärtige Max-Ernst-Retrospektive in der Nationalgalerie wäre auch
e wäre auch die erste an diesem Ort, 1979, ohne seine Initiative und sein Engagement kaum denkbar gewesen.Der Maler selbst hat die erste große Ausstellung seines Lebenswerkes in Berlin nicht mehr erlebt. Er starb kurz vor seinem 85. Geburtstag 1976 in Paris. Ernst war ein vitaler Mensch, vermutlich auch ein hedonistisch gesinnter, was der Verschleiß von vier Ehen (die letzte nicht mitgerechnet) kurzschlüssig nahelegt. Mit Sicherheit besaß er eine ausgeprägte Phantasie, die er nicht im akademischen Drill zu zähmen brauchte. Max Ernst war Autodidakt. Er studierte 1910 bis 1914 Altphilologie in Bonn, aber seine Liebe gehörte der Malerei. Die »Augen trinken alles, was in den Sehkreis kommt«. In kurzer Zeit assimilierte er die Spielarten der europäischen Moderne, knüpfte Kontakte zu Macke, Arp, Delaunay und Appollinaire. 1912 stellt er mit den »Rheinischen Expressionisten« aus, und als ihn ein Jahr später Herwarth Walden zum legendären »Ersten Deutschen Herbstsalon« einlud, gehörte er schon zur internationalen Gemeinde der Geistrevolutionäre. 1914 war alles zu Ende. Max Ernst überlebte den Ersten Weltkrieg, starb symbolisch und kehrte im November 1918 »zum Leben zurück«. Doch nach dem Rückfall in die Barbarei war das geistige Erbe verspielt. 1919 ist er »dada-bereit« und gründet zusammen mit Hans Arp und Johannes T. Baargeld die Kölner Dada-Gruppe »W/3«, gibt kurzlebige Zeitschriften wie die »Schamade« heraus und brüskiert mit seinen Kumpanen das kunstsinnige Kölner Publikum. Seine seelenlosen Maschinenmenschen aus diesen Jahren (»santa conversazione » 1921, »die anatomie als braut«, 1921) offenbaren das Fiasko der bildungsbürgerlichen mens-sana-in-corpore-sano - Gläubigkeit. Aus Max Ernst wird Dadamax, ein Bürgerschreck, der das Ende von Kunst, Kompetenz und Kennerschaft verkündet. Die dadaistische Persiflage des Erhabenen kam dem Autodidakten Ernst gelegen. Sie hat seiner Begabung für geistvoll-groteske Bildkombinatorik quasi eine historische Chance gegeben. Er scheute auch das Blasphemische nicht, wie seine antiklerikale Ikone »Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind« von 1926 zeigt. Sie verdankt ihre Popularität in erster Linie der Bildidee, weniger ihrer malerischen Umsetzung. Das Bild ist schlecht gemalt und auch in anderen Arbeiten werden aufmerksamen Beobachtern handwerkliche Schwächen nicht entgehen. Max Ernst aber hat die Rangfolge von Idee und Handwerk unmißverständlich geklärt und den herabgefallenen Nimbus des göttlichen Knaben um seinen Namen gelegt.1922 ist er nach Paris übergesiedelt. Dort, im inspirierenden intellektuellen Milieu der Surrealisten um André Breton, fand Ernst zu seinem Stil und gab der Collage eine spezifisch Ernst'sche Prägung .Aus Kaufhausprospekten, Journalen und Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts holte er sein Bildmaterial. Mit Ironie und Hintersinn konstruierte Ernst aus Bildfragmenten semantisch fremder Realitätsbereiche absurde und sinnlose Szenerien mit dem Anschein von Alltäglichkeit. Chimären, seltsame Mischwesen und arglose Menschenkinder bevölkern ganze Collageromane, in denen zu »blättern«, die Ausstellung reichlich Gelegenheit gibt. Zwar wird der assoziative Reichtum der Arbeiten dem Publikum von heute keinen Schauer mehr über den Rücken jagen, aber er ermöglicht Einblicke in ein Bildverfahren, das Wahrnehmungsgeschichte geschrieben hat. Daß sich die Zustände des Somnambulen und Visionären mit so beklemmender Präsenz mitteilen, beruht auf der Art und Weise des Künstlers, die Schnittstellen zwischen Bildbausteinen nahtlos zu verschleifen und so den Effekt des natürlich Gegebenen zu evozieren. Dieses Verfahren des anschaulichen Zufalls greift modernen filmischen Simulations- und Schnitttechniken voraus, über die die zeitgenössischen Filmemacher noch nicht verfügten.Der Surrealist Max Ernst insistierte auf der emanzipatorischen Potenz der nicht-realen Dimension seiner Bilder. Ausschließlich verwandte er Bildmaterial aus dem späten 19. Jahrhundert, das die Werte bürgerlicher Wohlanständigkeit als Sinnschicht im Bild ablagert. Der Schnitt der Schere durch das intakte Bild ist daher auch ein symbolischer. Er denunziert das Erscheinende als bloßen Schein und fördert im zufälligen und alogischen Konglomerat der Bruchstücke den Horror des Verdrängten zutage.Mit dem Verzicht auf zeitgemäßes Bildmaterial hatte Ernst eine sozialkritische Interpretation seiner Bilder verhindern wollen. Ihn interessierten die existentiellen »Urschichten« jenseits der Konventionen und - so das surrealistische Credo - jenseits verstandesmäßiger Kontrolle.Dem kam auch das Durch- und Abreibeverfahren der Frottage entgegen, als deren Erfinder Ernst gilt. Als Grattage ist diese Technik in die Malerei übertragen worden. Dabei werden farbige Leinwände über Gegenständen abgerieben oder gestanzte Bleche in die feuchte Farbe gedrückt. Die Grätenwälder sind auf diese Weise entstanden. Wie in diesen »Landschaften« verarbeitete Ernst seine Zufallsprodukte zu Metamorphosen des Lebendigen, um den »Funken Poesie« überspringen zu lassen und der Imagination Nahrung zu geben.All seine Bilder sind voller Andeutungen und Anspielungen, ein Amalgam aus psychoanalytischer Symbolik, phantastischen Bilderfindungen und vieldeutiger Ironie. Von der Ambivalenz des Geschlechterkampfes, »Weib, Greis und Blume« 1924, bis zu den Allegorien entfesselter Gewalt, »La Horde« 1927, reflektiert die Ernst'sche Bildmetaphorik die Brüchigkeit einer Welt, die nicht mehr in ihren begrifflichen Koordinaten aufgehoben ist.Im Kontext der Zeitgeschichte war Max Ernsts ästhetische Entgrenzung von Realität und Fiktion, Bild und Begriff ein revolutionärer, wenn auch kein singulärer Akt. Es war das Thema der klassischen Moderne, die in den 20er Jahren aus dem skeptischen Bewußtsein des Traditionsverlustes ein neues Selbstverständnis gewann.Aus heutiger Sicht scheint der historische Impuls »produktiver Nichtbesitzbarkeit« (Adorno) kaum wiederholbar. Es mag melancholisch stimmen, daß einem Tabula-Rasa-Machen die Objekte abhanden gekommen sind. Und die bildliche Konkretion des Immaterielllen hatte ihren Preis. Auch Max Ernsts »Entdeckungsfahrten ins Unbewußte« förderten in den 30er Jahren nur noch bekannte Denkfigurationen zu Tage. In der Ausstellung läßt sich nachvollziehen, wie der subversive Impetus allmählich wachsender Fabulierfreude weicht. Ästhetische Effekte gewinnen an Bedeutung, die Bildmetaphern an Deutlichkeit. Die Techniken werden raffinierter und die Texturen subtiler. Die Malerei erlangt Priorität und sinnliche Opulenz.Es sind nicht allein die Selbstzitate, die die Aufmerksamkeit erschlaffen lassen. Aus Dadamax ist ein Romantiker geworden, der vor uns eine Kosmologie »wunderlicher Einheiten« ausbreitet, um uns sehend zu machen. Und »eines erinnert an alles, wird das Zeichen vieles.« (Novalis) Den metaphysischen Botschaften ist heute aber nicht nur der Glaube, sondern auch ihre Legitimation abhanden gekommen, weshalb uns die Mythen der Moderne nicht mehr irritieren.Die Bildgeschichte hat ihre kreativen Potenzen absorbiert. Dem nachzuspüren kann Spaß machen. Max Ernsts assoziative Bilderfindungen, die das zeitgenössische Publikum mit imaginären Realitäten konfrontierten, gehören heute zu visuellen Alltagsereignissen. Daher wäre es wahrscheinlich konsequenter gewesen, im Vorraum Videoclips oder Werbespots zu zeigen, die uns ihre Träume anbieten.Neue Nationalgalerie, bis 30. Mai. Der Katalog erschien bei Dumont, Köln
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