Es kam, wie es kommen sollte - der neue Präsident hat die Erwartungen all derer auf sich ziehen können, die Russland retten, die ihr Land wieder als bestimmendes Mitglied der Völkergemeinschaft sehen wollen. Die Frage ist allerdings, wie soll das geschehen? Ginge es nach gelegentlichen Sentenzen Putins, die während seines Durchmarsches vom interimistischen zum gewählten Präsidenten geprägt wurden, dann müsste ab sofort Schluss sein mit dem Kopieren westlicher Reform-Vorstellungen, sollte nun ein eigener, russischer Kurs zwischen Marktwirtschaft und traditionellen kollektiven Lebens- und Wirtschaftsformen - zwischen Privateigentum und Patriotismus - gesteuert werden .
Zum geflügelten Wort geriet eine Mahnung Putins - ausgesprochen vor jener Strat
ener Strategiekommission -, die sein Programm ausarbeiten soll: "Erinnern Sie sich daran, die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns unterwerfen müssen. Der Verlust der Rechtsordnung führt zu Chaos und Grenzenlosigkeit." Den starken Staat und die Demokratie - beides will Wladimir Putin fördern, da ist ihm der Applaus des nationalpatriotischen Lagers einigermaßen sicher. Alexander Dugin, radikaler Ideologe einer Klientel, die den Grundkonflikt zwischen Russland und Amerika als Maß aller Dinge betrachtet, gibt sich geradezu elektrisiert: "Putin - das ist ein gigantischer Erfolg unseres Projektes." Aber nicht nur Patrioten dieser Couleur, auch die Kommunisten scheinen angenehm berührt. Putins Optionen könnten Auffassungen entsprechen, mit denen sie in zehn Jahren Opposition dem Privatisierungskurs Boris Jelzins entgegengetreten sind: Rettung Russlands vor dem Ausverkauf an das Ausland. Orientierung an den "kollektiven Traditionen" des Landes. Ein Einschwenken des Präsidenten auf diese Linie dürfte die KP allerdings in erhebliche Abgrenzungssorgen stürzen, denn für den Normalverbraucher sind die Thesen Putins und die Gennadi Sjuganows kaum noch zu unterscheiden.Soviel ist sicher: Die Existenzfragen Russlands lassen sich nicht durch nationalistische Propaganda lösen, auch nicht durch die Fortsetzung des Krieges gegen Tschetschenien. Eine Überprüfung der Privatisierung scheint unumgänglich, mindestens aber eine Abwehr ihrer kriminellen Energie. In diesem Zusammenhang muss die Zukunft der sogenannten natürlichen Monopole geklärt werden, gemeint sind damit GASPROM, der Gigant der Gasverwertung, RAOUES - der allrussische Energiekonzern - und die Eisenbahn. An dem Versuch, diese Konglomerate zu privatisieren, sind ausnahmslos alle Regierungen Jelzins in den vergangenen Jahren gescheitert. Augenblicklich häufen sich Anzeichen dafür, dass die vom einstigen Präsidenten hofierten Clans einen erneuten Anlauf zur Aufteilung dieser Unternehmen, darüber hinaus zur Freigabe des Kaufs und Verkaufs von Grund und Boden, unternehmen wollen. Statt einer Versöhnung von Privatkapital und Patriotismus deutet das eher auf einen verschärften Konflikt zwischen den Interessen des Staates und denen der Oligarchen.Geradezu aufreizend wirkt da die Ruhe, die ein Analytiker wie Wjatscheslaw Nikonow, der sich selbst als konservativ versteht, in der Beurteilung des "Putin-Fiebers", wie er es nennt, an den Tag legt. Sicher, ein westliches Entwicklungsmodell sei für Russland unbrauchbar, doch auch das Gerede von Kollektivismus barer Unsinn: "Es geht nicht um Kollektivismus, es geht um korporative Strukturen. Man sagt oft, wir hätten den Kollektivismus aus dem Osten und die Arbeitsliebe aus dem Westen. Ich denke eher, wir haben den Individualismus aus dem Westen - aus dem Osten den Despotismus. Despotismus auf individueller Grundlage - das ergibt eine einzigartige Mischung, dem Westen wenig verständlich."In Jelzins Privatisierungsprogramm von 1991 wurden die traditionellen Strukturen als "schädlicher Kollektivismus" und "Hauptgegner des Fortschritts" denunziert. Doch die Mehrheit der Kollektive erwies sich als resistent, andererseits unter dem Druck der Privatisierung als nicht mehr arbeitsfähig. Heute - das ist der Hintergrund für Putins Hinwendung zum "Kollektiv" - zeichnet sich von den Regionen her eine Reorganisation dieser überkommenen Strukturen ab, nicht als alternatives Gesellschaftsmodell, sondern erzwungen durch existenzielle Not, die Notwendigkeit des Erhalts betrieblicher und darauf aufbauender außerbetrieblicher Lebensstränge, deren weiterer Zerfall in absehbarer Zeit Hungerkatastrophen heraufbeschwören würde. Da erhält auch Putins vorläufiger Burgfrieden mit dem "Kollektivismus" einen Sinn: Vollkommen offen ist allerdings, ob er die Kollektive stärken oder sie weiter zerschlagen will, ob er die Privatisierung beendet oder sogar noch einmal beschleunigt.