FREITAG: Schätzungen zufolge werden heute mehr als 95 Prozent der Schwangerschaften mit einem positiven pränataldiagnostischen Befund abgebrochen. Ist das aus Ihrer Sicht ein Argument für oder gegen diese Form der Diagnostik?
MARGARETHA KURMANN: Es widerspiegelt zunächst einmal eine selektive, ausgrenzende Haltung gegenüber allen, die krank, versehrt, beeinträchtigt, behindert sind. Dieses Alltagsdenken, das sich immer mehr durchsetzt, halte ich gerade aus feministischer Sicht für hochproblematisch. Was aber die Pränataldiagnostik betrifft, muss man sehen, dass Abtreibungen ja das Ende einer Kette sind, die z.B. mit dem Nackenfalten-Screening beginnt, also der routinemäßigen Suche nach Hinweisen auf das Vorliegen eines Down Syndroms per Ultraschall in der Frühschwangerschaft im Rahmen der regulären Schwangerenvorsorge. Aus unserer Sicht macht es deshalb wenig Sinn, über Abtreibungen zu streiten, anstatt diese Verfahren zu problematisieren. Wenn eine Frau in einer Konfliktsituation, in die sie über einen pränataldiagnostischen Befund gekommen ist, nur noch diesen Weg des Schwangerschaftsabbruchs für sich sieht, dann ist das unserer Ansicht nach ihre individuelle, intime Entscheidung, die ihr im Rahmen einer medizinischen Indikation überlassen bleiben sollte.
Setzt ein anderer Umgang mit ethischen Fragen auch einen anderen Zugang zu Triple-Test, Ultraschall und Fruchtwasser-Analyse voraus?
Wir fordern seit langem, pränataldiagnostische Untersuchungen und Tests, die keine therapeutischen Auswirkungen für die Schwangerschaft oder die Geburt haben, aus der Schwangerenvorsorge herauszunehmen. Beim Ultraschall ist diese Differenzierung sicher schwierig, das wissen wir. Anstatt ihnen die Untersuchungen aber routinemäßig anzubieten und teilweise gar aufzudrängen, würden wir uns wünschen, dass Frauen sie aktiv nachfragen müssten.
Welche Rahmenbedingungen wären zusätzlich nötig, damit Frauen sich gezielt für oder gegen solche Untersuchungen entscheiden können?
Neben einer geänderten Angebotsstruktur wäre wichtig, dass ihnen Alternativen aufgezeigt werden. Meistens ist ja das Argument für die Tests, dass Frauen sich sicherer fühlen, wenn sie unauffällige Befunde erhalten. Da stellt sich also die Frage: Wo können Frauen sich ohne diese Fixierung auf Risiko und Kontrolle Sicherheit herholen? Schließlich kommen fast alle Kinder gesund auf die Welt.
Gleichzeitig wäre Sorge dafür zu tragen, dass MedizinerInnen, die diese Untersuchungen anbieten, Frauen umfangreich über die Implikationen und Folgen von Pränataldiagnostik aufklären. Gerade weil pränataldiagnostische Tests ja sehr weitreichende Konsequenzen haben können, gehören über die Risiken und Nebenwirkungen hinaus auch Fragen wie: Passt das in mein Normen- und Wertesystem, mein Kind auf eine mögliche Abweichung testen zu lassen? Käme ein Abbruch für mich überhaupt in Frage? Stelle ich mir meine Schwangerschaft so vor? Solche Fragen müssten vor jeder Untersuchung individuell geklärt werden. Das ist gegenwärtig nicht der Fall.
"Frauen zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Normierung" lautet der Untertitel Ihrer Tagung. Was haben die pränataldiagnostischen Möglichkeiten Frauen in den letzten 25 Jahren aus Ihrer Sicht gebracht?
Befürworterinnen sehen selektive Pränataldiagnostik - und weitergehend auch neue Reproduktionstechnologien wie die Präimplantationsdiagnostik (PID) - als eine Möglichkeit, sich einmal mehr von "Natur" als "Schicksal" zu befreien. Der Preis für diese Art von Selbstbestimmung ist aber Fremdbestimmung. Im Alltag der Anwendung sind es hierarchische Strukturen, Automatismen und Normen darüber, was eine "gelungene" Schwangerschaft, eine "gute Mutter/gute Frau" ist. Wenn suggeriert wird, gesunde Kinder seien machbar, werden Frauen in die Verantwortung genommen, diese "Chancen" zu nutzen. Wenn PID zugelassen würde, werden Frauen, die zum Beispiel ein Kind mit einer genetisch bedingten Beeinträchtigung oder Krankheit haben, unter Rechtfertigungsdruck geraten, PID und damit verbunden Invitro-Fertilisation nicht zu wollen - so wie wir es bei der Pränataldiagnostik heute bereits haben.
Darüber hinaus müssen wir, wenn wir von Selbstbestimmung reden, auch darüber streiten, was damit gemeint sein soll: Ein Verständnis von Selbstbestimmung, das eine Abspaltung von Körperlichkeit, Bedürftigkeiten und Abhängigkeiten bedingt, ist aus unserer Sicht auch für Frauen problematisch. Von der Tagung erhoffen wir uns deshalb eine Weiterentwicklung dessen, was Selbstbestimmung vor dem Hintergrund von Gentechnik und Reproduktionsmedizin sein kann.
Das Interview führte Karin Nungeßer
Margaretha Kurmann ist Referentin der Arbeitsstelle Pränataldiagnostik / Reproduktionsmedizin beim "Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte". Die Diplomtheologin war 1995 Mitbegründerin des "Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik" und ist eine der Veranstalterinnen der Fachtagung "Reproduktionsmedizin und Gentechnik - Frauen zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Normierung", die gegenwärtig in Berlin im Haus am Köllnischen Park stattfindet und anschließend dokumentiert wird.
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