Von den beiden Cousins aus Ost-Jerusalem, die in der vergangenen Woche in einer Synagoge im Jerusalemer Stadtteil Har Nof vier Betende getötet haben, ist nicht bekannt, dass sie Mitglieder einer palästinensischen Widerstandsorganisation wären. Berichte, dass die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) für das Massaker verantwortlich sei, scheinen wenig glaubwürdig, selbst wenn die beiden mit einem Funktionär aus dieser Organisation verwandt waren.
Sollte es eine Gruppe geben, mit der man die Tat in Verbindung bringen könnte, dann kann das eigentlich nur jener Islamische Staat, der IS also, sein, der gerade in Syrien und im Irak kämpft. Die Angreifer vom 18. November waren keine IS-Mitglieder, aber ihr Amoklauf könnte durchaus vom Dschihad des IS inspiriert sein. Immerhin handelte es sich um eine religiös und ideologisch motivierte Tat, die tiefem Hass auf Juden entsprang. Eine Attacke auf ein eindeutig religiöses Ziel, das ausgewählt wurde, um maximal zu schockieren.
Auch wenn die Täter auf eigene Faust gehandelt haben – so wie die meisten der Palästinenser, die für die jüngste Welle der Gewalt verantwortlich sind, die zehn Israelis das Leben kostete –, so war das Massaker in der Synagoge doch sorgfältig geplant. Man muss davon ausgehen, dass das Ziel vorher „inspiziert“ wurde. Das Verbrechen erweckt keineswegs den Eindruck, als wäre da aus dem Affekt gehandelt worden, wie das bei vorherigen Attacken mit Fahrzeugen und Messern der Fall war. Der Synagogen-Mord erinnert mehr an den ebenfalls geplanten Angriff auf den Tempelberg-Aktivisten Jehuda Glick vor gut vier Wochen. Auch hier kann man einen Einfluss des IS erkennen, schließlich steht der für wirkungsvolle, auf Abschreckung setzende Terrorakte. Man erinnere sich nur an den Mordanschlag auf den britischen Soldaten Lee Rigby in London am 22. Mai 2013 oder den Angriff eines aus Frankreich stammenden Muslims auf das Jüdische Museum in Brüssel am 24. Mai 2014. Und der hatte tatsächlich in Syrien für den IS gekämpft.
Auf eigene Faust
Aber auch die israelische Regierung trägt ihren Teil dazu bei, dass sich der Konflikt mit den Palästinensern immer weiter religiös auflädt. Sie bringt es nicht fertig, den Versuchen der ultrarechten jüdischen Aktivisten entgegenzutreten, das Bet-Verbot für Juden auf dem Tempelberg aufzuheben. Der Synagogen-Angriff vom 18. November nährt eine schlimme Befürchtung: Israelis und Palästinenser treiben immer mehr einem Religionskrieg entgegen, auch wenn ihr Konflikt immer schon Anzeichen einer solchen Eskalation in sich trug. Diese Tendenz ist sehr gefährlich.
Als rechtsradikale jüdische Fanatiker mehrere Moscheen in der Westbank abbrannten, haben israelische Politiker und viele Rabbiner die Taten verurteilt. Obwohl die jüngsten Anschläge von palästinensischer Seite ungleich mörderischer waren, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass wir aus den besetzten Gebieten eine ausdrückliche Verurteilung der Morde im Jerusalemer Stadtteil Har Nof hören werden.
Die Lawine aus Gewalt und Gegengewalt hat bislang zwar noch nicht zu Massenaufständen in der Westbank geführt, doch die hohe Frequenz der Ereignisse, ein oder zwei tödliche Aktionen pro Woche, erschüttert das Sicherheitsgefühl der Menschen in Jerusalem. Es wäre keine Überraschung, würde sich herausstellen, dass die beiden Terroristen – oder wer auch immer sie geschickt haben mag – mit dem religiösen Viertel Har Nof vertraut waren. Zwangsläufig wird palästinensischen Arbeitern in jüdischen Vierteln seither mit aggressivem Misstrauen begegnet. Die Polizei verschärft nochmals ihr Überwachungsregime, so wird Jerusalem in die alten und schlechten Zeiten der Zweiten Intifada im Jahr 2000 zurückgestoßen.
Es fällt auf, wie wenig es Israel gelingt, den Sicherheitsbedürfnissen in Jerusalem gerecht zu werden. Palästinenser können nicht nur ungehindert in den Westteil der Stadt gelangen, auch die außerhalb der Trennmauer liegenden arabischen Viertel werden von der Armee und der Polizei nur sehr begrenzt kontrolliert. Darüber hinaus sind die Nachrichtendienste über solche Attentäter, die keiner Organisation angehören, sondern auf eigene Faust handeln, nur unzureichend – wenn überhaupt – informiert. Das ist kein neues Phänomen; auch über den 26-jährigen Alaa Abu Dhein, der am 6. März 2008 acht Religionsschüler an der Schule Merkas HaRaw Kook tötete, wusste man vorher so gut wie nichts.
Der neuerliche Angriff auf die Jerusalemer Synagoge fiel nun in eine Zeit, in der es viele Gerüchte um den Tod eines arabischen Busfahrers aus Ost-Jerusalem gab. Obwohl die Polizei und beteiligte Gerichtsmediziner davon überzeugt schienen, dass sich der Mann am 15. November das Leben genommen hatte, waren die Palästinenser umgekehrt genauso überzeugt, dass Juden den Mann aus nationalistischen Gründen umgebracht hatten. Die Medien in den besetzten Gebieten haben mit Berichten über einen möglichen Mord zusätzlich Öl ins Feuer gegossen.
Die Reaktion der Regierung von Benjamin Netanjahu in der vergangenen Woche nun war vorhersehbar, fiel aber dennoch ungemein drastisch aus. Ausgerechnet Mahmud Abbas (Abu Mazen), der Präsident der Autonomiebehörde, wurde als moralischer Urheber des Synagogen-Anschlags in Haftung genommen. Juval Steinitz, Minister für Nachrichten- und Geheimdienste, ließ sich gar zu dem Satz hinreißen: „Die Äxte lagen in den Händen der Terroristen, aber die Stimme war die von Abu Mazen.“
Hauptfeind Abu Mazen
Das Arsenal an Sofortmaßnahmen war schnell aufgebraucht: Man ließ die Häuser der Täter in Jerusalem abreißen und verstärkte die Polizeipräsenz. Unter diesen Umständen kann Netanjahu das Versprechen kaum halten, das er dem jordanischen König Abdullah gerade erst gegeben hat, nämlich die strengen Auflagen für die Palästinenser in Ost-Jerusalem zu lockern. Nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Angesichts bevorstehender Wahlen werden sich seine Minister nun beim Abfeuern zionistischer Pfeile auf den schrecklichsten ihrer Feinde überbieten.
Das ist derzeit, wie gesagt, Abu Mazen. Auch nachdem er seinen Kondolenzbrief an die Familie des Mannes, der nach seinem Attentat auf Jehuda Glick von der israelischen Polizei erschossen worden war, veröffentlicht hatte. Die palästinensische Administration gab damit zu verstehen, dass sie beim Streit um den Tempelberg nicht zurückweichen wolle. Allerdings stimmen die israelischen Sicherheitskräfte darin überein, dass die Behörde Terroranschlägen keinen Vorschub leistet, jedenfalls nicht in der Westbank.
Joram Cohen, Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, bekräftigte diesen Eindruck noch am Tag des Anschlags auf die Synagoge vor dem Verteidigungsausschuss der Knesset: Der Palästinenser-Präsident stifte nicht zu Gewalt an, weder offen noch verdeckt. Wenn Cohen das so sieht, sind hetzerische Statements von Ministern des Kabinetts Netanjahu dazu angetan, ihrerseits Öl ins Feuer zu gießen. Man ist einfach zu entrüstet darüber, dass die Autonomiebehörde den UN-Sicherheitsrat noch in diesem Jahr ersuchen wird, den palästinensischen Staat anzuerkennen. Abbas trage dann die Schuld, so die Minister, wenn es in den besetzten Gebieten unausweichlich zu einer Intifada kommt; eine Intifada, die möglicherweise jene Welle der Gewalt noch übertrifft, die wir gerade erleben. Niemand kann dann noch ausschließen, dass organisierte Terror-Netzwerke die Angriffen einzelner „einsamer Wölfe“ sekundieren. Innerhalb nur eines Monats sind schon jetzt mehr israelische Zivilisten ums Leben gekommen – neun und ein Grenzpolizist – als während der gesamten Operation Protective Edge, mit der im Sommer der Gazastreifen zur Räson gebracht werden sollte.
Cohen und die meisten Kommandeure in der Armee teilen die Auffassung, dass eine allgemeine Eskalation kaum noch aufzuhalten ist. Sie geben sich pessimistischer als die Politiker. Netanjahu und die rechten Hardliner seiner Koalition haben lange den Eindruck erweckt, Israel müsse den Konflikt mit den Palästinensern „verwalten“, da er in naher Zukunft nicht gelöst werde. Selbst wenn ihre Einschätzung zutreffen sollte, dass die palästinensische Führung nicht in der Lage ist, einen dauerhaften Konsens im eigenen Lager zu bewirken, belegt die unerbittliche Konfrontation dieser Tage, dass die Aufrechterhaltung des Status quo ihren Preis fordert.
Aus Sicht der Palästinenser gibt es keinen Status, der akzeptabel ist, wenn dadurch die Besatzung ebenso fortgeschrieben wird wie der Siedlungsbau oder eine intensive rechtsradikale Aktivität der Ultra-Orthodoxen am Tempelberg. Unter diesen Umständen werden die Angriffe weitergehen und möglicherweise künftig noch mörderischer sein.
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