Minsk, im Juli: Eine ältere Dame bittet mit schüchterner Stimme um Unterschriften für die Liste, mit der jeder Präsidentschaftskandidat 100.000 Unterstützer sammeln muss, um zur Wahl zugelassen zu werden. Viele weigern sich, für Amtsinhaber Alexander Lukaschenko zu unterschreiben. Wenn die Ablehnung zumindest höflich ausfällt, ist sie erleichtert: »Danke, dass Sie mich nicht beschimpfen!« Sie ist Lehrerin, erklärt sie, und der Schuldirektor habe sie und ihre Kollegen verpflichtet, je 100 Unterschriften für den Präsidenten zu sammeln. Seitdem muss sie aus Sorge um ihren Job von Tür zu Tür gehen und sich beleidigen lassen - für einen Kandidaten, den sie nicht wählen wird. Noch schwieriger ist die Arbeit aber
ber für die Unterstützer der Oppositionskandidaten - in vielen Orten sind sie Behinderungen ausgesetzt, einige wurden festgenommen, bei Einbrüchen verschwanden Listen und Computer. Komplette Ausgaben oppositioneller Zeitungen wurden »wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten« beschlagnahmt ...Drei Monate später haben es von den ursprünglich 25 Anwärtern neben dem Amtsinhaber drei geschafft, die nötigen Unterschriften beizubringen. Der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei von Belarus, Sergej Gaidukewitsch, gilt als chancenlos. Der zweite Herausforderer, Semjon Domasch, hat seine Kandidatur zurückgezogen und unterstützt Wladimir Gontscharik, auf dem nun die Hoffnungen der gesamten demokratischen Opposition lasten. Der Vorsitzende des unabhängigen Gewerkschaftsbundes, ein eher farbloser ehemaliger KPdSU-Kader, versteht sich nach eigenen Angaben als Sozialdemokrat. Er strebt keine umwälzenden ökonomischen Reformen an, befürwortet aber eine Annäherung an die EU und will ansonsten vor allem die Atmosphäre von Angst und Aggression überwinden - beides prägende Markenzeichen der Herrschaft Lukaschenkos.Der hat zwar erst kürzlich erklärt, Traktorist sei für ihn der schönste Beruf, doch es ist offensichtlich, dass der erste frei gewählte Präsident der Republik Belarus die Macht unter keinen Umständen aus den Händen geben will. Seit er sich bei der Wahl 1994 mit einer Anti-Korruptionskampagne überraschend klar mit über 80 Prozent gegen den Favoriten und damaligen Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch durchsetzte, regiert der ehemalige Kolchoschef das Land in zunehmend autoritärer Weise.Der entscheidende Schritt zur Diktatur erfolgte im November 1996 mit einem Referendum: Lukaschenko ließ sich in einem als undemokratisch und verfassungswidrig gebrandmarkten Verfahren fast unbegrenzte Vollmachten auf den Leib schneidern und seine Amtszeit auf sieben Jahre verlängern. Außenpolitisch geriet das Land so vollends in Isolation. Im selben Jahr sorgte er zudem für einen diplomatischen Skandal, als er die Botschafter mehrerer Staaten mit Aussperrungen, Strom- und Wassersperren aus ihren Häusern in Nachbarschaft seiner Residenz vertrieb.In Belarus selbst agierte Lukaschenko bis zum Ende der neunziger Jahre allerdings weitgehend unangefochten und von der Opposition unbehelligt. Herausragende Köpfe wie Simon Posnjak, der Führer der nationalistischen Weißrussischen Volksfront, emigrierten in den Westen, während sich der »Widerstand« im Land auf das Sammeln von Anekdoten über den immer skurriler werdenden Führungsstil beschränkte.Als noch zu Beginn des Jahres niemand mit einer möglichen Niederlage Lukaschenkos rechnete, waren es tatsächlich diese Anekdoten, die der Opposition wieder einen gewissen Aufwind gaben und halfen, das Klima der Angst aufzuweichen. Der peinlichst auf die Kontrolle der Presse und seine Medienwirksamkeit bedachte Präsident, der seinen Ministern gerne vor laufenden Kameras den Kopf wäscht oder per Fernsehen Strafverfolgung ankündigt, lieferte seinen Gegnern mit Aussprüchen wie »Für die Ruhe im Land bin ich bereit, meinen eigenen Verstand zu opfern« Steilvorlagen. Ein Staffellauf durch Minsk anlässlich des Unabhängigkeitstages brachte ihm den Spitznamen »der Skiläufer« ein. Lukaschenko siegte als Schlussläufer auf Sommerski gegen mehrere Olympiateilnehmer - und erklärte, man solle ihm einen einzigen westlichen Staatsmann zeigen, der dazu in der Lage wäre.Anekdoten und PsychosenEin junger Psychologe nahm derlei zum Anlass, in der Zeitung Nasha Svaboda ein Gutachten über den mentalen Zustand des Präsidenten zu veröffentlichen, bevor er in die USA emigrierte. Aufgrund der Diagnose »mäßig ausgebildete Psychose mit überwiegender paranoider und dissozialer Persönlichkeitsstörung« kam er zu dem Schluss, dass »die Bekleidung des Präsidentenamtes durch A. G. Lukaschenko eine Gefahr nicht nur für die Bürger der Republik Belarus, sondern auch die Sicherheit und Stabilität in der Region« darstellt. Seitdem tauchen vor Regierungsgebäuden immer wieder Jugendliche in weißen Kitteln auf, die mit Skiern unter dem Arm nach ihrem »Patienten« suchen. Bei der Verhaftung von Teilnehmern eines »Psychiatrischen Spaziergangs« mit Dutzenden verkleideter Ärzte und Präsidenten konnten selbst unter den Polizisten viele ihr Lachen nicht unterdrücken.Dass die Sorgen des Psychologen nicht unbegründet sind, zeigt der Fall des im Juli vorigen Jahres auf dem Minsker Flughafen verschwundenen Kameramanns Dmitrij Sawadskij. Zwei mit der Untersuchung des Falles betraute Staatsanwälte flüchteten aus Angst um ihr Leben in die USA. Ihre Zeugenaussagen und jetzt aufgetauchte Dokumente, die vom amerikanischen State Department als glaubwürdig eingestuft werden, deuten auf die Existenz einer Todesschwadron zur Beseitigung unliebsamer Kritiker hin. Der angeblich vor vier Jahren auf direkten Befehl des Präsidenten eingerichteten Gruppe unter Führung des Geheimdienstoffiziers Dmitrij Pawlutschenko werden bis zu 20 Morde angelastet. Sawadskij - ehemals Lukaschenkos persönlicher Kameramann - und die einflussreichen Politiker und Geschäftsleute Karpenko, Krassowskij und Sacharenko sollen mit einer Pistole erschossen worden sein, die sonst bei der Vollstreckung von Todesurteilen in weißrussischen Gefängnissen verwendet wird.Proteste und PrognosenProtestaktionen mit den Porträts der Verschwundenen und das konsequente Verprügeln der Demonstranten durch Sicherheitskräfte haben das Vertrauen in den Präsidenten bei der Stadtbevölkerung, aber auch unter Staatsbediensteten und in der Armee rapide sinken lassen. Eine Prognose über die Wählergunst lässt sich dennoch kaum treffen, da er unter Pensionären und Landbevölkerung immer noch große Sympathien genießt. Die - wenn auch winzigen - Renten wurden im Gegensatz zu Russland stets pünktlich gezahlt, und regelmäßig werden zur Erntezeit »Spekulanten« verpflichtet, kostenlos Diesel an die Kolchosen zu liefern. Auch die restaurative Politik hin zu einer Neuauflage der Sowjetunion findet bei vielen Verlierern der neuen Freiheit nach 1991 weiterhin Anklang.Fraglich bleibt auch die Rolle Russlands. Die erhoffte Unterstützung erhielt Lukaschenko bisher nur vom Duma-Vorsitzenden Selesnjow, dem KP-Vorsitzenden Sjuganow und - neuerdings auch - von Wladimir Schirinowskij. Der jedoch hatte vor zwei Jahren noch verlauten lassen, dass »Weißrussland nur noch ein Scharfschütze retten« könne. Präsident Putin hat es derweil verstanden, die Bedeutung der russisch-weißrussischen Beziehungen zu unterstreichen, ohne dass dies als Wahlkampfhilfe für den zunehmend unbequemen Kollegen missverstanden werden könnte. Im Kreml nimmt man Lukaschenko die Selbstherrlichkeit übel, mit der er immer wieder ungeladen nach Moskau reist, sich als Präsident für eine noch zu gründende russisch-weißrussische Föderation ins Gespräch bringt oder Putins Tschetschenienabenteuer kritisiert.Die Zeit Jelzins, da Lukaschenko in Russland große Freiheiten und auch politische Anerkennung genoss, ist vorbei. Zwar reiste der Kremlchef im Juli mit seinem ukrainischen Amtskollegen zum Dreiländergipfel am Rande eines Volksfestes nach Witebsk, beide vermieden aber peinlichst, in Lukaschenkos Beschwörungen der »gemeinsamen slawischen Wurzeln« einzustimmen. Im russischen Fernsehen, wichtigste Informationsquelle für die Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung, wurde der Gastgeber in der Gipfelberichterstattung nicht einmal gezeigt.Auch für den Fall einer Niederlage am Sonntag ist der mögliche Kurs aber vorgezeichnet: Auf einer öffentlichen Sitzung mit Verwaltungschefs beschuldigte Alexander Lukaschenko die Opposition, für den Tag nach der Wahl einen Sturm auf seine Residenz zu planen, obwohl er zweifellos 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen werde. »Ich habe meinem Volk nichts gestohlen. Ich werde mich nicht wie Milosevic in einem Bunker verstecken, ich habe vor niemandem Angst. Ich werde mich verteidigen. Wer wird mich verteidigen? Natürlich die Truppen des Innenministeriums. Sie haben eine Sondereinheit unter dem Kommando Pawlutschenkos. Der Name ist Ihnen bekannt ...«
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.