Dank der Bemühungen des französischen Sozialforschers und Philosophen Pierre Bourdieu hat sich die Gruppe Raison d'agir im vergangenen Jahr zu einem Europa weiten Netzwerk entwickelt. Es vereint unbeirrbare Kritiker der neoliberalen Ideologie - und es wirbt konsequenter als manch andere (gewerkschaftliche) Struktur um eine demokratische Opposition, die sich wirklich als Gegenbewegung versteht. Ein Ansatz für grenzüberschreitende, gewerkschaftliche Aktionen innerhalb der EU, deren Integrationsdynamik sich bisher auf die Integrationsmüdigkeit der Gewerkschaften verlassen konnte. Nicht zuletzt um das zu ändern, wird Raison d'agir auch durch den IG Medien-Vorsitzenden Detlef Hensche unterstützt.
FRAGE: Wenn gemeinsames Handeln gefragt ist, neigt die Linke oft zu Partikularismus und Sektierertum - ist das mit Raison d'agir anders?
DETLEF HENSCHE: Der Umgang miteinander quer durch alle Schattierungen ist längst nicht mehr so kompliziert und durch Tabus oder Abgrenzung belastet wie früher. Das heißt aber noch lange nicht, dass die unterschiedliche Sicht der Dinge ernst genommen und respektiert wird. Hier haben wir alle noch ein Stück kulturellen Fortschritts vor uns. Natürlich stoßen in dieser Bewegung unterschiedliche Lebenswelten aufeinander. Das macht den Reiz aus.
Wie lässt sich die Dominanz des neoliberalen Denkens durchbrechen?
Wir können nicht dabei stehen bleiben, die Hegemonie des Neoliberalismus immer wieder zu beklagen und zu analysieren. Wir müssen uns auch fragen, wie wir wieder handlungsfähig werden. Wenn die Gewerkschaften, und nicht nur sie, derzeit in der Defensive stecken, so ist dies nicht allein der Übermacht des Kapitals geschuldet, es hängt auch mit eigener Halbherzigkeit, Unentschlossenheit, Fantasielosigkeit und Konfliktscheue zusammen. Bisweilen scheint es, als habe die Linke den Kampf um die Köpfe aufgegeben.
Was wollen Sie der Internationalen von Wirtschaft, Politik und großen Teilen der Medien entgegensetzen?
Notwendig sind Gegenentwürfe zum neoliberalen Programm der ungebändigten Renditesteigerung und der kommerziellen Kolonialisierung öffentlichen Lebens. Ich hoffe, dass es uns mit der "Charta 2000" (Aufruf zur Einberufung der Generalstände für ein soziales Europa - die Red.) gelingt, eine überzeugende Vision einer neuen menschenwürdigen Gesellschaft zu entwickeln, für die sich zu kämpfen lohnt. Wenn die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum, wenn Autonomie, Emanzipation und Chancengleichheit die Perspektiven einer solchen Gesellschaft sein sollen, muss das Folgen für Organisation und Verteilung der Arbeit, die sozialen Sicherungssysteme, die Reichtumsverteilung und die öffentliche Infrastruktur haben. Es gibt genügend Projekte, die ernsthaft verfolgt werden müssen.
Wie soll die Arbeit umverteilt werden?
Wenn wir die Arbeitslosigkeit überwinden wollen, ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung in unterschiedlichen Formen geboten. Dabei gilt es nicht zuletzt die patriarchalische Arbeitsteilung zu überwinden, die den Männern das Privileg des so genannten Normalarbeitsverhältnisses zuweist, während ihnen die Frauen durch unbezahlte Reproduktionsarbeit und bei prekärer Beschäftigung den Rücken freihalten. Geschlechterdemokratie gebietet auch eine gerechte Verteilung der Erwerbs- und Reproduktionsarbeit.
Bislang waren solche Töne in den Gewerkschaften selten zu hören ...
Wir müssen Verkrustungen überwinden, die auch heute noch spürbar sind. Sehen Sie: In Deutschland kämpfen wir gegenwärtig gegen die so genannte Reform der Rentenversicherung. Wir werden dabei nur zweiter Sieger bleiben, wenn wir nicht gleichzeitig für eine Befreiung der Sozialversicherung von den engen Fesseln des Normalarbeitsverhältnisses eintreten. Bestimmte Institutionen der Sozialversicherung werden wegen ihrer Verengung zu Recht kritisiert. Wenn wir uns nur in eine Verteidigungshaltung begeben, behalten die Konservativen leider Recht und haben Erfolg. Wir müssen Reformimpulse, die auf Veränderungen der sozialen Wirklichkeit reagieren, selbst aufgreifen und verfolgen.
Welche Rolle spielt dabei der Austausch mit sozialen Bewegungen?
Es geht auch um das kulturelle Projekt, welche Werte und Lebensmuster einer ökonomischen Durchdringung der Gesellschaft entgegenzusetzen sind. Hier zeigt sich, wie wichtig die Verbindung mit anderen sozialen, feministischen und ökologischen Bewegungen ist. Die Gewerkschaften sind immer wieder der Versuchung erlegen, bestimmte Interessen, etwa die der männlichen Facharbeiter, mit Vorrang zu verfolgen. Hier kann der Stachel anderer Initiativen nur gut tun.
Raisons d'agir wirbt für grenzüberschreitende Kooperationen - sehen Sie Ansätze für ein Aktionsbündnis der europäischen Gewerkschaften?
In allen europäischen Staaten ist in den vergangenen Jahren ein mehr oder weniger ausgeprägter Niedriglohnsektor entstanden. Für diese Arbeit sollten die Beschäftigten einen einheitlichen Mindestlohn erhalten, der es ihnen ermöglicht, ein Leben nach dem europäischen Standard zu führen. Eine gemeinsame Aktion der europäischen Gewerkschaften könnte es sein, diesen Mindestlohn tarifvertraglich durchzusetzen - notfalls auch mit grenzübergreifenden Streiks. Oder: Wie wäre es, die Gewerkschaften würden sich darauf verständigen, mit Vorrang prekäre Beschäftigung zu bekämpfen, die sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz vermissen lässt? Solche Projekte würden nicht nur dem Tarifvertrag zu gesellschaftlichem Ansehen verhelfen und einen wichtigen Beitrag zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen leisten, sondern auch ein einigendes Band zwischen den Gewerkschaften in Europa knüpfen.
Das Gespräch führte Erwin Single
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