Der Stoff, auf dem die Füße stehen

Bühne In Dresden inszeniert Tilmann Köhler Christa Wolfs Erzählung "Der geteilte Himmel" auf dem Boden der Tatsachen – ohne Kostüme und Uniformen. Ein kräftiger Abend

Leer die weite Bühne der Erinnerungslandschaft. Über ihr hängt der Himmel als große, weiße Stoffbahn, auf die Gagarins Start in den Weltraum oder Wolkenmassen über undeutlicher Erde projiziert werden. Dieser Himmel liegt später auch auf der Bühne, unter den Füßen der Menschen, und wird ihnen allmählich weggezogen.

Die an den gesellschaftlichen Problemen, aber auch am Wollen und Können der Protagonisten scheiternde Liebesgeschichte zwischen der jungen Rita, die Lehrerin werden will und im Waggonwerk die Produktion kennenlernt, und dem zehn Jahre älteren Chemiker Manfred, wird von Tilmann Köhler ohne Nostalgie und Abbildrealismus inszeniert.

Keine Bilder aus Halle und dem Waggonwerk, wo Christa Wolfs 1963 erschienenes Buch spielt, keine Kostüme und Uniformen der Vergangenheit. Auch keine Reminiszenzen an Konrad Wolfs Verfilmung von 1964 wie bei Sebastian Hartmanns Inszenierung an der Berliner Volksbühne (2001) – einer Arbeit, die auf der Suche nach Utopien im Nachwendebewusstsein nur existentielle Perspektivlosigkeit entdeckte.

Drei Ritas

1999 war Wolfs Text erstmals auf die Bühne gelangt, am Berliner Theater an der Parkaue, das damals noch zwischenzeitlich Caroussel hieß. Da versteckte Regisseur Axel Richter das Stück in poetischen Bildern und hielt es auf Distanz.

Tilmann Köhler macht zugleich kräftiges wie zartes Menschentheater voller poetischer und sinnlicher Bilder. Dabei rückt er den Figuren mit den Fragen von einst und heute auf den Leib. Er nutzt die Erzählkonstruktion des Romans, in der die junge Rita nach Selbstmordversuch oder Unfall in der Klinik ihr Leben durchdenkt. So liegen anfangs unterm Stoffbahnen-Himmel zwei Ritas: eine, die aufsteht und zurückschaut, und eine jüngere, die diese Vergangenheit vorspielt. Zuvor aber konfrontiert uns eine dritte, ältere, heutige Rita mit Wolf-Sätzen aus Stadt der Engel: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.“ Und: „Nicht immer sind die Tatsachen gegenüber den Gefühlen im Recht.“ Die Inszenierung zeigt das: Sie nimmt die Gefühle ernst, ohne sie, wie Christa Wolf, allzu schematisch (und politisch austariert) von der gesellschaftlichen Situation bestimmen zu lassen.

Die Schauspieler des bewundernswert starken Ensembles fügen sich zu Gruppen auf leerer Bühne, und die Szenen fließen unaufgeregt ineinander. Da pumpen alle bunte Luftballons auf, wenn sie in der Produktion sind. Da tanzt umgarnend der Lehrerwerber, und die sprachlosen Konflikte in der Brigade werden durch Körperarrangements versinnlicht. Rita und Manfred finden sich in stiller, intensiver Szene.

Wunderbar, wie die erst 25-jährige Lea Ruckpaul ihre Rita als jungen Menschen in der Entwicklung spielt: staunend, lernend, zupackend, sich reibend an Widersprüchen. Und Matthias Reichwald zeichnet Manfred als einen verhärteten, an seinen reaktionären Eltern wie den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten resignierenden, nihilistischen Mann. Wie alle Figuren (Mitläufer, Altnazi, Überzeugte) in ihren Widersprüchen und Brüchen charakterisiert werden, ohne als Klischees zu versimpeln, macht die Inszenierung zum Ereignis. Die Gesellschaft, sie ist kompliziert und auch ungerecht. Aber die Menschen sind es, die etwas wollen und sich entscheiden müssen. Rita will etwas, und ihre unbedingte Liebe scheitert daran.

In Dresden ist ein kräftiger, poetisch-politischer Theaterabend zu bewundern.

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