Die Bilder von Leichen auf den Straßen der ecuadorianischen Küstenstadt Guayaquil gingen zu Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 um die Welt. Hunderte Tote wurden von Sondereinheiten geborgen und begraben. Das Gesundheitssystem war offenbar mit dem großen Ausbruch von Sars-CoV2 überfordert. Dass dies so kam, war nicht allein dem traditionell prekären Zustand der gesundheitlichen Versorgung vieler lateinamerikanischer Staaten geschuldet. Just vor Ausbruch der Pandemie setzte die Regierung von Präsident Lenín Moreno massive Kürzungen im Gesundheitssystem durch, zu denen er sich als Bedingung für Kredite des Internationalen Währungsfonds verpflichtet hatte. 4,5 Prozent aller durch das staatliche Gesundheitsministerium finanzierten Stellen wurden im Zuge dieser „Strukturanpassung“ gestrichen.
Im März 2019, ein Jahr vor dem ersten Höhepunkt der Pandemie, schloss der IWF im Rahmen der „Extended Fund Facility“ ein Übereinkommen mit der US-freundlichen Regierung von Moreno. In diesem Deal wurde ein Kredit in Höhe von 4,2 Milliarden US-Dollar an strukturelle Anpassungen der ecuadorianischen Wirtschaft und der staatlichen Verwaltung gekoppelt. Die vom IWF verschriebene Medizin für das wirtschaftlich angeschlagene Land: Austeritätspolitik mit Kürzungsmaßnahmen und eine weitere Liberalisierung der Märkte. Gestrichen wurde unter anderem bei den staatlichen Subventionen für Kraftstoff. Der darauffolgende Anstieg der Treibstoffpreise traf besonders die ärmere Landbevölkerung. Dort wird Treibstoff nicht nur zur Fortbewegung, sondern auch zur Stromerzeugung mittels Generatoren genutzt. Die Folge waren landesweite Proteste, besonders der indigenen Bevölkerung. Durch die harsche Antwort der Regierung und der staatlichen Sicherheitskräfte wurden mindestens acht Menschen getötet und 1.300 verletzt.
Gekürzt wurde aber auch bei den Beschäftigten im öffentlichen Sektor: Bis zu 140.000 Stellen sollten gestrichen werden. Bei insgesamt rund 600.000 Angestellten im öffentlichen Sektor (Stand 2019) eine enorme Zahl. Dass in diesem Prozess auch die erwähnten 4,5 Prozent aller durch das staatliche Gesundheitsministerium finanzierten Stellen gestrichen wurden, kann einen aus heutiger Perspektive, angesichts der 2020 aufgekommenen Pandemie, nur erschrecken. Denn vielleicht hätten Szenen wie jene in Guayaquil verhindert werden können, wären im Gesundheitssystem nicht systematisch Stellen abgebaut worden; wäre der IWF-Kredit nicht zu dem Preis dieser Sparpolitik vergeben worden. Und, was sich nun durch Nachfrage bei der Bundesregierung ergeben hat: Deutschland trägt für dieses Desaster Mitverantwortung.
Strukturanpassungsprogramme ohne Ende
Um das deutsche Engagement im IWF zu verstehen, hilft zunächst ein Blick auf dessen Funktion. 1944 gegründet, kam dem Internationalen Währungsfonds in der globalökonomischen Nachkriegsordnung die Aufgabe zu, Kredite an wirtschaftlich defizitäre Länder zu vergeben. Während der Ökonom John Maynard Keynes zur Zeit der Gründung die Anwendungsmöglichkeiten dieser globalen Kredite noch darin sah, während nationalwirtschaftlicher Krisen Geld für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Aktivität und des Beschäftigungsgrads aufzuwenden, bildete sich als Gegenprogramm in den 80er Jahren der „Washington Consensus“ als maßgeblich für den IWF heraus. Dieses Bündel an Politikmaßnahmen muss als neoliberal bezeichnet werden, in dem Sinne, dass Märkte dereguliert, der Staat auf ein Minimum reduziert und der Grad der Privatisierung erhöht werden soll. Der Washington Consensus kann dementsprechend als die Gegenposition zu Keynes Forderung gesehen werden; ein Staat in einer konjunkturellen Tiefphase solle sparen statt zu investieren. Die in ihm propagierten Politikmaßnahmen schlagen sich immer wieder in den vom IWF als Kreditkonditionen verschriebenen Strukturanpassungsprogrammen nieder.
Diese Konditionen haben augenscheinlich ihren Zweck in der Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz des betreffenden Landes. Auf dem Papier werden dadurch besonders sogenannten Entwicklungsländern die Fortschritte ermöglicht, die es braucht, um auf dem Weltmarkt zu bestehen und eine stabile Wirtschaft aufzubauen. Jedoch profitierten besonders westliche Unternehmen von dem Abbau bestimmter Handelshemmnisse und der Öffnung der nationalen Märkte für ausländische Direktinvestitionen, die oft Teil dieser Konditionen sind. Denn die Öffnung der Märkte für private Investoren aus dem Ausland ermöglicht die Inanspruchnahme und den Abbau von natürlichen Ressourcen (wie etwa Erdöl) durch die kapitalstarken, multinationalen Unternehmen des globalen Nordens (wie etwa Shell oder ExxonMobil). In den von den IWF-Kreditkonditionen vorgeschriebenen Strukturanpassungsprogrammen sehen Sozialwissenschaftler*innen deshalb die Fortführung kolonialer Strukturen, in denen der globale Süden vom globalen Norden ausgebeutet wird.
In den Konditionen lässt sich jedoch auch leicht eine Form der globalpolitischen Machtausübung seitens der USA sehen. Nicht zufällig hat die Knüpfung von wirtschaftlicher Hilfe an die Errichtung eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems ihren Anfang im Kalten Krieg. Durch erkaufte Systemanpassungen wurde die Entstehung sozialistischer Staaten verhindert, es wurden stattdessen Staaten konstruiert, die sich an die Spielregeln eines globalen Kapitalismus halten. Diese Praxis, die versucht, mögliche Konkurrenten des westlichen Blocks gar nicht erst zuzulassen, hat imperialistische Züge, da durch sie die Vormachtstellung der USA und der dazugehörigen Weltanschauung gesichert wird.
Vom Bundesfinanzministerium entsandt
Doch weshalb trifft nun Deutschland eine Mitschuld an dem IWF-Programm, das in Ecuador derart verheerende Folgen hatte? Das liegt an der Struktur der Beschlussfindung des IWF. Im Exekutivdirektorium, dem Entscheidungsgremium, hängt das Gewicht der Stimmrechte vom Kapitalanteil, den das jeweilige Land am IWF hat, ab. Es überrascht von daher nicht, dass die Länder mit der größten Wirtschaftsleistung auch die größte Entscheidungsmacht im IWF haben. Die USA, mit Abstand an erster Stelle, verfügen über 16,5 Prozent aller Stimmrechte. Darauf folgen Japan und China mit jeweils etwas über sechs Prozent. Doch bereits auf Platz vier der entscheidungsmächtigsten Länder ist Deutschland, mit einem Stimmanteil von 5,3 Prozent. Der deutsche Vertreter im IWF, der vom Bundesfinanzministerium entsandt wird und von dort Weisungen bezüglich des Abstimmungsverhaltens erhält, vereint also einige Macht auf sich. In ebendiesem Entscheidungsgremium wird das Tagesgeschäft abgeregelt, wozu auch die Vergabe des Kredits an Ecuador im März 2019 gehörte.
Dabei ähnelt die deutsche Interessenslage im IWF stark der der USA: Auch die deutsche Exportwirtschaft hat ein großes Interesse an der Entstehung marktwirtschaftlich geprägter Länder als potenzielle Handelspartner und vor allem als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte. Und auch Deutschland ist sicherheitspolitisch, wie dem gesamten transatlantischen Bündnis, viel daran gelegen, keine Staaten mit konkurrierenden Systemen zuzulassen.
Zwischen globalem Machtinteresse und verheerenden Konsequenzen für die Menschen vor Ort hat Deutschland dem Abkommen zwischen dem IWF und Ecuador, samt Auflagen, zugestimmt. Auf das Verhalten bezüglich des Abkommens angesprochen, war sich das SPD-geführte Finanzministerium jedoch keiner Schuld bewusst. Dem deutschen Exekutivdirektor sei aufgetragen worden, dem neoliberalen Abkommen im Exekutivrat zuzustimmen, antwortete das Ministerium auf eine parlamentarische Anfrage. Außerdem unterstütze die Bundesregierung „die von den ecuadorianischen Behörden angestrebten Politikmaßnahmen“ genauso wie den „besondere(n) Schutz der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen“. Ein offensichtlicher Widerspruch. Denn wurden die Politikmaßnahmen unterstützt, die besonders die indigene und die Landbevölkerung getroffen haben, so wurden eben gerade nicht die „vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen“ geschützt.
Deutsche Ausreden
Auch sieht die Bundesregierung keinerlei Zusammenhang zwischen den Kürzungen im Gesundheitssystem und der verheerenden Auswirkung der Corona-Pandemie in Ecuador. In der Antwort des Ministeriums heißt es: „Aus Sicht der Bundesregierung hat das IWF-Programm dazu beigetragen, fiskalische Handlungsspielräume Ecuadors zu erweitern und insofern die Möglichkeit Ecuadors erhöht, adäquat auf die COVID19-Pandemie reagieren zu können“. Die Bundesregierung hält es also augenscheinlich bezüglich der Pandemie für eine angemessene Strategie, im Gesundheitssystem zu kürzen, um dafür „fiskalische Handlungsspielräume“ zu schaffen. Dass nicht „fiskalische Handlungsspielräume“, sondern medizinisches Personal gebraucht werden, um Menschen in einer gesundheitlichen Notlage zu versorgen, liegt jedoch auf der Hand. Davon abgesehen wurde sogar noch im Frühjahr 2020, also nach dem eigentlichen Sparprogramm, massiv gekürzt; die im Abkommen vereinbarten Spielräume waren also gerade nicht ausreichend.
Doch auch aus einem anderen Grund ist das Argument, die durch Einsparungen im Gesundheitssektor kreierten fiskalischen Handlungsspielräume verbesserten die Reaktionsmöglichkeit auf die Pandemie, widersinnig. Da die Reinvestition selbstverständlich nicht von heute auf morgen passieren kann, wird durch diese Einsparungen die unmittelbare Reaktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, die bei einer Pandemie essenziell ist, stark eingeschränkt. Und diese Einschränkung ist im wahrsten Sinne des Wortes fatal. Die gekürzten Stellen im Gesundheitssektor haben zur schwierigen Situation der Krankenhäuser in Guayaquil beigetragen und die dafür geschaffenen Handlungsspielräume haben den Opfern jener Tage nichts genutzt. Natürlich wurde zu dem Zeitpunkt des Abkommens nicht mit einer globalen Pandemie gerechnet. Doch es ist offensichtlich, dass die in diesem Abkommen von der Bundesregierung unterstützten Maßnahmen mit dazu geführt haben, dass es zu einem Kollaps des öffentlichen Gesundheitssystems in manchen Städten Ecuadors gekommen ist. Die Folge: Todeszahlen, die geringer hätten sein können, hätte es die Sparpolitik nicht gegeben.
Sicher hätten die deutschen Stimmanteile das neoliberale Kürzungspaket in Ecuador nicht allein verhindern können. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem fatalen Austeritätsparadigma des IWF stünde aber gerade einem SPD-Kanzlerkandidaten und aktuellen Finanzminister gut zu Gesicht. Stattdessen wird versucht, die problematische Rolle des IWF-Kredits in Ecuadors Corona-Albtraum herunterzuspielen. Doch die dafür vorgebrachten Argumente sind, wie gezeigt wurde, nicht überzeugend.
Undurchsichtig und fragwürdig
Sie verdeutlichen hingegen, dass bei Deutschlands Verhalten im IWF Intention und Handlung auseinanderzuklaffen scheinen. Bevölkerungsschutz und Bejahung von massiven Sparprogrammen sind miteinander unvereinbar. Obwohl dieser Konflikt nichts Neues ist, musste sich das Bundesfinanzministerium bisher zu selten für seine Weisungen an den Exekutivdirektor bezüglich abgestimmter Strukturanpassungsprogramme rechtfertigen. Das deutsche Engagement in der internationalen Organisation bleibt dadurch undurchsichtig und fragwürdig
Im Fall Ecuadors bleibt lediglich festzuhalten, dass dem Verhalten der Bundesregierung im IWF entweder tatsächlich ein guter Wille, nämlich der Wille, die indigene und arme Bevölkerung zu schützen, zu Grunde lag, dieser aber stümperhaft und erfolglos umgesetzt wurde, oder aber, dass es von Anfang an kein wirkliches Interesse am Schutz der vulnerablen Bevölkerungsgruppen Ecuadors gab und unter dem Deckmantel angeblicher Hilfeleistung nationale wirtschaftliche und strategische Interessen verfolgt wurden. Während die erste Möglichkeit nur peinlich wäre, wäre die zweite ein klares Merkmal von einer nationalen Interessensdurchsetzung seitens der Bundesregierung und im Besonderen des SPD-Finanzministeriums, die bereit ist, über Leichen zu gehen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.