Die andere Wut

Im Gespräch Michael Linden über ein altes, neues Krankheitsbild - Verbitterung

Das Gefühl der Verbitterung kennt jeder, doch bei manchen Menschen wächst es sich zur handfesten Krankheit aus. Einige Jahre nach der Wende beobachtete Professor Michael Linden, Arzt an der psychosomatischen Rehabilitationsklinik Seehof in Teltow/Berlin, vermehrt Patienten mit einer Symptomatik, für die er eine neue Bezeichnung einführte: Posttraumatische Verbitterungsstörung PTED (posttraumatic embitterment disorder).

FREITAG: Sie haben eine neue Krankheit erfunden ...
MICHAEL LINDEN: Das mit dem "Erfinden" ist relativ, jedenfalls hat auch Aristoteles bei den alten Griechen das Phänomen schon beschrieben. Wir haben nun versucht, die diagnostischen Kriterien zu verbessern und erste Ansätze einer Behandlung zu entwickeln.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Verbitterung zu einer Krankheit zu erklären?
Wir sind im Nachhinein sehr erstaunt, dass dieser Affekt in der Psychopathologie bisher keine Beachtung gefunden hat. Wir erklären uns das damit, dass bei Verbitterung immer so schnell ein Grund bei der Hand ist. Jemand ist wegen irgend eines Anlasses verbittert, man weiß also warum und denkt nicht mehr weiter. Dass sich da aber inzwischen eine eigene Dynamik entwickelt, sieht man nicht mehr. Wenn ich persönlich die Wahl hätte, eine Angsterkrankung, eine depressive Erkrankung oder eine Verbitterungsstörung zu bekommen, würde ich mit Sicherheit nicht für die Verbitterung optieren, sie ist ein viel schärferes und negativeres Gefühl als Angst oder Depression.

Was macht sie schlimmer?
Verbitterung ist ein Mischaffekt, der gleichzeitig Verzweiflung, Aggression gegen sich selbst, Aggression gegen Dritte, Hoffnungslosigkeit und Denkblockaden einschließt. Sie ist ein sehr viel breiterer und umfassenderer Affekt als Depressivität oder Angst. Bei Angst bleiben noch viele Lebensbereiche übrig, die nicht betroffen sind, Verbitterung aber erfasst alles.

Wie entsteht Verbitterung?
Nehmen wir zum Beispiel eine meiner Patientinnen. Sie hat über viele Jahre in einer kleinen Familienfirma gearbeitet, war engagiert und sehr identifiziert mit ihrer Arbeit. Dann gab es wirtschaftliche Probleme und die Frau bekam an einem Freitagnachmittag schriftlich die Kündigung durch einen Boten überreicht. Warum die Eigentümer, die sie jeden Tag gesehen hat, das so gemacht haben, darüber kann man lange spekulieren. Jedenfalls ging diese Frau nach Hause, hat das Wochenende über geheult, war völlig verzweifelt und hat, bis sie hier in die Klinik kam, ein ganzes Jahr lang die Wohnung nicht mehr verlassen, sich mit niemandem mehr getroffen, hat keine neuen Arbeitsangebote angenommen, hat nicht mehr gegessen, nicht mehr schlafen können.

Wenn sie auf eine andere Art die Kündigung erhalten hätte, wäre das nicht passiert?
Möglicherweise.

Welche Bedingungen müssen gegeben sein für ein PTED?
Es gibt eine ähnliche Erkrankung, die Posttraumatische Belastungsstörung PTSD (posttraumatic stress disorder), dort wird für die Diagnose verlangt, dass es eine lebensbedrohliche Situation als Auslöser gegeben haben muss, zum Beispiel ein Bombeneinschlag im Krieg. Ungefähr ein Drittel der Betroffenen solcher traumatischen Erlebnisse entwickelt danach Symptome, die fortschreiten und sich verstärken. Bei der PTED haben wir keine in dem Sinne außergewöhnliche Ursache. Es ist ein lebensübliches, allerdings nicht alltägliches Ereignis wie Kündigung, Scheidung, manchmal auch nur eine Vereinsquerele, das die PTED auslöst. Unser Eindruck ist, dass Menschen davon betroffen sein können, wenn sie in Bereichen verletzt werden, die ganz zentral wichtig für sie sind. Die sozusagen ihr eigenes Leben definieren.

Ist der Trauma-Begriff nicht ein bisschen hoch gegriffen?

Trauma heißt nur, dass da ein Ereignis ist, das den Bruch herbei geführt hat. Eine PTSD gibt es nicht ohne ein lebensbedrohliches Ereignis, und eine PTED gibt es nicht ohne ein einschneidendes Ereignis, das mit Datum und Uhrzeit zu benennen ist.

Können Sie das von den Symptomen her abgrenzen?

Die Verbitterungsstörung ist keine Angsterkrankung. Bei der PTED ist es ein Kränkungserlebnis, das zentrale kognitive Annahmen verletzt, sich verselbstständigt und dazu führt, dass die Patienten sich entweder selbst umbringen, zumindest in Gedanken manchmal auch andere, nicht mehr essen, nicht mehr schlafen können, Intrusionen haben, also sich ständig aufdrängende Erinnerungen an das Ereignis. Sie entwickeln Phobien. Wir haben Patienten, die sich weigern, durch den Stadtteil zu fahren, in dem sie den Aggressor treffen könnten, so dass man auf den ersten Blick meinen könnte, das sei eine Phobie. Ich erinnere mich an eine frühere Patientin, die ich unter der Diagnose einer Phobie behandelt hatte, erfolglos. Heute weiß ich, warum. Es war keine Phobie.

Das Grundgefühl der Verbitterung wäre also nicht Angst, sondern Wut?

Verbitterung ist noch etwas anderes als Wut, Wut ist nach außen gerichtet. Verbitterung ist eine Mischung auch aus Niedergedrücktheit bei gleichzeitiger innerer Agitation. Es ist ein Konglomerat sehr verschiedener unguter Affekte. Die Patienten kommen auch nicht von selbst und suchen nach Hilfe, im Gegenteil, wenn man ihnen sagt, man möchte ihnen helfen, ist man sofort auf der Seite der Feinde und wird eher noch "gebissen".

Wie erklären Sie sich, dass eine solche Störung bis jetzt noch nicht beachtet worden ist?

Da gibt es mehrere Gründe: Die Patienten bieten so viele Symptome, dass man schnell mit irgend einer anderen Diagnose fertig ist, Phobie zum Beispiel oder Depression. Man hat also kein Problem, diesen Patienten eine Diagnose zu geben. Nur sie stimmt nicht. Zum zweiten hat man sehr schnell eine Erklärung bei der Hand, da ist eine Scheidung oder eine Kündigung und alles ist scheinbar erklärt. Und drittens haben wir früher solche Patienten immer nur einzeln gesehen, aber jetzt sehen wir größere Zahlen.

Woran liegt das?

Das hängt mit der Wende zusammen. Wenn 17 Millionen Menschen gleich mehrfach ihre Biografie neu organisieren müssen, muss es einige geben, die dabei sozusagen stolpern. Es gibt bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die für PTSD die Inzidenz erhöhen - Kriege zum Beispiel - und offensichtlich gibt es auch bestimmte Rahmenbedingungen, die dazu führen können, dass es Verbitterungsstörungen häufiger gibt. Wir haben dies nicht in den ersten Jahren nach der Wende gesehen, sondern erst nach einem halben Jahrzehnt.

Und wie erklären Sie das?

Unmittelbar nach der Wende haben zwar viele ihre Arbeit verloren oder ändern müssen, aber alle haben gedacht, das ist eine gute Sache. Bis man mitbekommt, dass die hohen Erwartungen sich in Luft auflösen und man selbst gescheitert ist, das braucht Zeit.

Sie würden aber nicht sagen, dass Verbitterung ein Ost-Phänomen ist?

Nein, das ist überhaupt nicht der Fall, ich habe auch genug Patienten aus dem Westen. Verbitterung ist eine Reaktion auf sehr individuelle Lebenskrisen ...

... die nicht kulturell bedingt sind?

Von der Art her nicht kulturell.

PTED könnte genauso gut in Afrika oder China auftreten?

Ja, genau. Ich traf auf einem Kongress neulich einen Kollegen aus Korea, der hat ähnliche Phänomene diskutiert. Der Hintergrund ist folgender: Wir brauchen persönliche Grundeinstellungen, die es erlauben, uns über die Lebensspanne hinweg, in Tausenden von Einzelsituationen, kohärent zu verhalten. Dazu gehören Religion, Weltanschauung, sehr übergeordnete Wertmaximen. Wenn die auf ungute Art verletzt werden, kann es zu überdauernden pathologischen Reaktionen kommen. Jeder kennt Verbitterung als menschliche Grunderfahrung, ab einer bestimmten Quantität entsteht aber eine neue Qualität.

Gibt es einen geschlechtsspezifischen Umgang mit Verbitterung?

Nein, wir sehen die Verbitterungsstörung bei Männern und Frauen in gleicher Art.

Und was hat Verbitterung mit dem Bildungsstand zu tun?

Eigentlich nichts. Sie hat etwas mit Weisheit zu tun, aber das ist von Intelligenz und Bildung unabhängig. Man könnte Weisheit definieren als Expertise für den Umgang mit uneindeutigen und letztlich nicht lösbaren Lebensproblemen. Das ist eine Fähigkeit, die wir überdies jeden Tag brauchen, Dinge relativieren zu können oder die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Das ist eine Art von emotionaler Intelligenz, hat aber nichts mit Schulbildung zu tun. Unser Eindruck ist, dass Patienten, die in diesen Dimensionen niedrige Scores zeigen, ein höheres Risiko für Verbitterung haben.

Welche Patienten haben Sie in der Klinik?

Patienten mit Verbitterungsstörungen werden uns häufig durch die Krankenkassen oder Rentenversicherungsträger zugewiesen, nachdem der Medizinische Dienst der Krankenkassen sie wegen langer Arbeitsunfähigkeit untersucht und eine stationäre Behandlung angeregt hat. Manche sind schon jahrelang arbeitsunfähig.

Wie sieht die Behandlung aus?

Da üben wir noch. Bei den ersten Patienten sind wir regelhaft gescheitert. Die PTED-Patienten haben im Vergleich zu anderen Patienten ein höheres Ausmaß an psychischen Symptomen wenn sie kommen, und sie haben deutlich geringere Veränderungswerte wenn sie gehen. Es ist eine Gruppe, auf die wir therapeutisch bisher nicht sehr stolz sein können.

Aber Sie arbeiten verhaltenstherapeutisch?

Ja. Wir haben inzwischen Verfahren entwickelt, um eine PTED objektiv erfassen und diagnostizieren zu können, und wir haben neue Therapieansätze entwickelt. Wir versuchen, die Emotionen benennbar zu machen. Die Patienten haben oft klare Fantasien, wie sie jemanden umbringen könnten, empfinden das selbst aber als inadäquat, haben die Gedanken aber trotzdem, reden darüber nicht, weil es hoch schambesetzt ist. Das heißt, man muss diese Schamschwelle überwinden, dann den genauen Ablauf anschauen, wie es zu dem kränkenden Ereignis kam. Man muss die Grundannahmen des Patienten verstehen, schrittweise, versuchen, seine Deutung des Ereignisses zu verändern. Da hilft zum Beispiel Perspektivwechsel, sich in andere Rollen hineinversetzen, das Ereignis rückblickend aus einem fernen Punkt in der Zukunft aus zu betrachten. Und dann versuchen wir gezielt, "Weisheitskompetenzen" zu trainieren.

Was muss man für ein Mensch sein, um eine Verbitterungsstörung zu bekommen?

Ich würde sagen: ein leistungsstarker Mensch. Wenn Sie in der Philharmonie Klavier spielen wollen, dann müssen Sie ihr ganzes Leben auf Klavierspielen setzen. Dann darf Ihnen die Familie nicht so wichtig sein, dann dürfen sie nicht auch noch Fußball spielen wollen etc. Das macht sie aber auch anfällig.

Aber es gibt doch Menschen, die unter gleichen Voraussetzungen nicht verbittert reagieren.

Es gibt eine psychische Widerstandsfähigkeit, Menschen leben seit jeher unter unhaltbaren Zuständen. Sich zu streiten, im Krieg zu sein, Kinder zu verlieren, das ist der Normalzustand. Leider. Die Menschheit wäre längst ausgestorben, wenn Menschen in Kriegszeiten nicht Kinder bekommen hätten. Die Fähigkeit, mit negativen Lebensbelastungen umzugehen, ist uns eigen, deshalb gibt es keine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Ereignis und Folge. Deshalb ist eine Vorhersage sehr schwierig.

Wie ist die Resonanz auf PTED in der Fachwelt? Haben Sie Gegenwind?

Es gibt kritische Fragen wie auch Zustimmung. Wir haben unsere Ergebnisse in mehreren Arbeiten publiziert. Viele Klinker und vor allem Gutachterärzte sagen: ja, das kenne ich, endlich weiß ich, was da los ist. Andere stellen die Frage, ob ein neues Konzept wirklich erforderlich ist und ob die Diagnose der PTSD nicht ausreicht. Letztlich wird weitere Forschung klären müssen, welchen Stellenwert die Diagnose einer PTED hat.

Was meinen Sie, wie viele Menschen verbittert sind?

Wir haben eine erste quasi epidemologische Untersuchung gemacht. Ungefähr die Hälfte der Menschen kann sich an irgend etwas im vergangenen Jahr erinnern, was ihnen, wie man so schön sagt, die Galle hochkommen lässt. Nach den Daten, die wir haben, könnte man mit aller Vorsicht schätzen, dass ungefähr drei Prozent der untersuchten Personen klinisch relevant beeinträchtigt sind.

Ist Verbitterung gehemmte Rache?

Das Spannende ist, dass es den Patienten, wenn sie ihre Rache haben, nicht besser geht.

Ist es nicht so, dass die Rache entlastet?

Was helfen würde, wäre vielleicht Gerechtigkeit, aber Rache ist ja nicht Gerechtigkeit.

Also die ganzen Menschen, die bei Hartz IV aufschreien ...

Das will ich nicht mit Verbitterung in eins setzen, da geht es um soziale Verteilungskämpfe. Ich denke, man würde dem klinischen Phänomen der PTED nicht gerecht, wenn man es soziwalwissenschaftlich oder politisch verstehen wollte.

Das Gespräch führte Andrea Roedig


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