Die "Baduy" von Kanekes

INDONESIEN Eine exotische Dorfgemeinschaft auf Java als Präzedenzfall der globalen Superökumene und "Sunda Wiwitan" als Ursprung aller Weltreligionen

Stell dir ein Leben ohne Fernsehen und Tageszeitung vor", erzählt Jamil. "Ein Land, bei dem das Tragen von Schuhen und maschinengenähter Kleidung unter Strafe steht - jede Lüge ein Verbrechen ist und jeder auch noch so lange Weg zu Fuß zurückgelegt werden muss." - Jamiluddin Ritonga, ein guter Freund und Dozent am Institut für Sozial- und Politikwissenschaft in Jakarta, studiert derzeit die Kommunikationsstrukturen einer exotischen Dorfgemeinschaft, die im Westen der Insel Java als Baduy bekannt ist. Seine Schilderungen sind anschaulich und detailliert und wecken schnell mein Interesse.

Einige Wochen später sitze ich mit Jamil im überfüllten Expresszug nach Rangkasbitung, etwa 100 Kilometer westlich der pulsierenden Metropole Jakarta. Der Name Baduy habe immer viel Stoff für Spekulationen geliefert, erzählt Jamil. Geläufige Annahmen verweisen auf einen möglichen Zusammenhang mit dem nahegelegenen Baduy-Vulkanmassiv und dem kleinen Fluss Cibaduy. Der Niederländer Cecil Krusemann, der Mitte des 19. Jahrhunderts auf Java geforscht hat, will den Ursprung des Wortes Baduy im arabischen Badu - "Beduinen" - entdeckt haben. Wie auch immer - als sicher gilt, dass die Baduy ihren Namen Fremden verdanken. Sie selbst nennen sich schlicht "Urang Kanekes" - "die Leute von Kanekes".

Jede Form von Technologie wird geächtet

Im sonnenüberfluteten Rangkasbitung legen wir eine Rast ein. Die Geschichte des Ortes führt in die Endphase des Unabhängigkeitskampfes während der vierziger Jahre zurück: Jugendliche Patrioten hatten damals den späteren Präsidenten Sukarno nach Rangkasbitung entführt, um ihn zur Proklamation der Unabhängigkeit zu zwingen.

Der Bus in das Kandenggebirge lässt sich Zeit mit der Abfahrt. "Ihr wollt wirklich zu den Baduy?", fragt die Frau am Imbiss-Stand skeptisch und weckt damit Jamils Forscherinstinkt. "Was halten Sie von den Baduy?" Die Frau zuckt mit den Schultern. "Diese Leute sind recht seltsam - manchmal machen sie mir Angst."

Direkt nach Kanekes, dem Dorf der Baduy, fahren keine Busse. Wer nicht zu Fuß gehen will, lässt sich für die letzten Kilometer auf ein Abenteuer mit dem Ojek ein: als Sozius eines schier selbstmörderischen Moped-Piloten. Mit irrsinniger Geschwindigkeit und unglaublicher Sicherheit katapultieren sie sich durch schlammige Pfade bis an die Grenze von Kanekes. Es sei ein populäres Vorurteil, dass die Baduy vollkommen isoliert leben würden, hatte mir Jamil erklärt. Eher sei es so, dass sie wegen ihres Andersseins von der Umwelt gemieden würden, sich aber kaum selbst abkapselten. Der erste Baduy, den ich treffe, scheint dafür der fleischgewordene Beweis zu sein - Ayah Zain ist von schlichtem, freundlichem Wesen. Als Baduy Dalam - "innerer Baduy" - trägt er ein grobes weißes Hemd. Das schulterlange, rabenschwarze Haar ist mit einem Tuch gleicher Farbe auf den Kopf geflochten. Um die Hüfte trägt Ayah Zain ein kurzes, locker geschwungenes, dunkelblaues Tuch; so mancher Fremde ist davon unangenehm berührt, da die Baduy niemals Unterwäsche tragen. Der 36jährige Ayah Zain, Vater von drei Kindern, wird uns die nächsten Tage durch Kanekes führen. Er ist einer der wenigen Baduy, mit denen eine Kommunikation in der offiziellen Landessprache Indonesisch möglich ist. Wir wohnen im Übrigen bei den Baduy Luar - den "äußeren Baduy" -, die sich vor allem darum zu kümmern haben, die "inneren Baduy" wie ein Schutzwall vor dem Zugriff von Fremden zu schützen. Der Unterschied zwischen beiden sei simpel, erklärt Ayah Zain. Die "äußeren" wurden aus den Reihen der "inneren Baduy" ausgestoßen, weil sie einst die strikten Gebote der geltenden Bräuche missachtet haben. Sie sind nun verpflichtet, schwarz oder dunkelblau zu tragen. Sie dürfen darüber hinaus auch öffentliche Verkehrsmittel nutzen, was "inneren Baduy" strikt verboten ist. Immer mehr Baduy entscheiden sich aus freien Stücken für ein Leben "außerhalb", da ihnen ein Dasein ohne eiserne Verbote attraktiver erscheint.

Ein Leben unter den orthodoxen Baduy mag in der Tat hart sein: Fernsehen, Radio, Zeitungen und Tabak sind tabu, der Gebrauch von Schuhen, Elektrizität und Petroleumöl ist ebenfalls untersagt. Man putzt sich die Zähne mit Kokosfasern, wäscht sich mit Blättern des Kapokbaumes, isst mit Löffeln aus Bananenblättern. Jede Form von Technologie, einschließlich landwirtschaftlichem Gerät und Düngemitteln, wird ausgeschlossen. Während in allen Regionen Indonesiens das ertragreiche Nassreisfeld dominiert, verlassen sich die Baduy allein auf Trockenreis. Die Achtung vor der Unberührtheit der Natur kennt keine Grenze. Da die Natur ihnen das Leben im Diesseits ermöglicht, glauben die Baduy, darf sie in ihrer ursprünglichen Form keinesfalls verändert werden. "Berge sollen nicht geschmolzen, Täler nicht geebnet werden", sagt die Überlieferung. Auch die Benutzung von Verkehrsmitteln jeder Art ist ausgeschlossen. Wer einen Freund in Jakarta besuchen will, ist dorthin fünf Tage zu Fuß unterwegs.

Treffen mit dem Propheten Mohammed

In diversen Reiseführern werden die Glaubensvorstellungen der Baduy wahlweise in den Islam, Hinduismus oder Buddhismus eingeordnet. Für die Betroffenen selbst ist Sunda Wiwitan der Ursprung aller Weltreligion. In der Lehre des Sunda Wiwitan ist Kanekes das Zentrum der Welt. Von diesem Punkt aus habe Ambu Luhur - die "erhabene Mutter" - die Erde erschaffen. Kanekes sei daher "Heiliges Land", denn hier traf einst der Prophet Adam auf den Propheten Mohammed, der gesagt haben soll: "Wann immer meine Gläubigen (die Muslime - die Red.) in Schwierigkeiten sind, so werden deine Nachkommen ihnen Beistand geben." Diese Überlieferung, die als Präzedenzfall einer globalen Super-Ökumene dienen kann, gilt als Legitimation für die Gesellschaftsstruktur der Baduy.

Führer der Gemeinschaft sind die Puun, die sich als direkte Nachfahren des Propheten Adam betrachten. Ihre Domäne sind Entscheidungen über den Reisanbau, die Ernte, Eheschließungen oder auch den Verstoß aus der Gemeinschaft. - "Und wenn der Puun einmal falsch entscheidet?", fragen wir. Ayah Zain ist verwundert: "Das geschieht nie ..." - Bei unserem Ersuchen um das Treffen mit einem Puun fühlt sich Ayah Zain sichtlich unwohl. Eigentlich dürfen Fremde die innere Zone nicht betreten. Wenig später nennt er die Bedingungen: Angemessene Kleidung (die meine weiße Haut bedeckt) - und keine Fotos. Auf unserem Weg durch das Dorf begleiten uns die Blicke der Baduy. Sie sind freundlich, aber äußerst zurückhaltend.

Der Puun - wir hatten einen König erwartet und treffen einen gewöhnlich gekleideten Menschen. Inmitten der längst untergegangenen machtvollen javanischen Großreiche, wo sich Macht stets mit unermesslichem Reichtum verband, hatten sich die Puun ihre Schlichtheit bewahrt. Selbst das Haus des Puun unterscheidet sich bis heute kaum von denen seiner Untertanen: Streng von Nord nach Süd ausgerichtet, ein Bau aus Holz und geflochtenen Palmenblättern - ohne einen einzigen Nagel.

Sportprogramm, Seifenopern - Ausverkauf

Der Puun wird Kanekes niemals verlassen. Wer ihn treffen will, muss sich auf ein unspektakuläres, aber unverzichtbares Ritual einlassen: Die Audienz beginnt mit der höflichen Übergabe eines weißen Tuches, eines Messers, von Pflanzenöl und Myrrhe. Der Puun kennt in dieser Beziehung keine Ausnahme. Auch für den Gouverneur von Westjava nicht, der vor einigen Jahren eine Audienz verlangte. Doch der Puun lehnte ab, da ihm der Gouverneur die Zeremonie verweigert hatte. Anders die jetzige Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri: Ihre Rücksichtnahme auf die Gebräuche der Baduy wird gerühmt. Die indonesische Bürokratie hat sich an den Baduy mehrfach ihre Zähne ausgebissen, bis sie schließlich deren Sperrigkeit respektierte. Zwar besitzen die meisten der etwa 6.000 Baduy heute einen Personalausweis, können ihn allerdings nicht lesen, denn Schulen gibt esnicht im Kandenggebirge, statt dessen heißt es hier: "Schule macht uns klug, doch was zählt, ist nicht Klugheit, sondern richtig zu handeln ..."

So haben die Baduy stets die Teilnahme an Wahlen strikt abgelehnt, da sie sich selbst nicht als "Indonesier" sehen. Um sich dennoch einer gewissen Toleranz der Behörden zu versichern, wandern sie nach Abschluss der Ernte in die Tiefebene nach Rangkasbitung hinab, um den Ertrag der Reisernte der Bezirksverwaltung zu "melden". Real kostet dies einen Tribut von etwa einem Zentner Reis sowie einer angemessenen Menge an Zucker und Bananen. Diese "Seba"-Zeremonie, die gemeinhin als Relikt der Tributzahlung an lokale Königreiche gedeutet wird, erhärtet die These, dass die ursprüngliche Heimat der Baduy in Banten liegt, an der west-javanischen Nordküste. Andere Theorien suchen die Ursprünge in der östlich gelegenen Region um Bogor oder in Zentral-Java. Allen Versionen gemein ist die Vermutung, dass die Baduy in der Mitte des 16. Jahrhunderts - nach dem endgültigen Zusammenbruch des hinduistisch-javanischen Großreiches Majapahit - durch den eindringenden Islam, dessen Einfluss sie sich widersetzten, in die Berge vertrieben wurden. Sie bezeichnen deshalb auch heute noch die Welt außerhalb Kanekes schlicht als "den Islam".

Wenn einige Baduy am Samstagabend ihr Dorf verlassen, um sich im Haus des Bürgermeisters vor dem Fernsehapparat zu versammeln, erleben sie "die Welt da draußen" mit nahezu kindlicher Verwunderung. Westliche Filme freilich sind tabu, Sportsendungen und indonesische Seifenopern stehen jedoch hoch im Kurs. Da scheint gelegentlich schon der Wunsch nach einem Leben fern der harten Verbote in Kanekes zu entstehen: Immer mehr Baduy scheren aus und suchen ihr Glück in den Metropolen Indonesiens.

Die Fremden, die in zunehmender Zahl nach Kanekes kommen, locken mit viel dienlichen Gegenständen: Taschenlampen, Radios, Metallwerkzeugen, Motorrädern. Immer wieder von Banduy-Führern durchgeführte "Säuberungsaktionen" haben zwar die Symptome kultureller Penetration kurzzeitig beseitigen können, nicht aber deren Quelle.

Auf dem Rückweg in das quirlige Jakarta spüren wir, viele Fragen harren noch immer einer Antwort. Ayah Zain, der nach der Geburt seiner ältesten Tochter Zain, einfach "Vater von Zain" heißt, sahen wir mit unserer Fragerei oft in Verlegenheit gebracht. Seinen "richtigen" Namen haben wir nie erfahren.

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