Die Edelsteine des Kitschs

Spurensuche im Profanen Vor 25 Jahren starb der Philosoph Ernst Bloch

Es gibt eine andere Welt": dieser Slogan der Anti-Globalisierungsbewegung könnte geradewegs dem Werk des Philosophen Ernst Bloch entsprungen sein. Aber um ihn, den Autor des Prinzip Hoffnung, ist es 25 Jahre nach seinem Tod still geworden. Liegt es daran, dass Blochs Name eng mit dem Begriff der "konkreten Utopie" verbunden ist und dass von "Utopie" - egal mit welchem Adjektiv garniert - heute niemand mehr etwas hören will? Vielleicht wird die Antwort auf diese Frage gegeben werden, wenn sich irgendwann einmal wieder, vielleicht bald schon, die Bloch-Lektüre eine Renaissance erlebt.
Aus einem ästhetischen Blickwinkel betrachtet, ist Bloch allemal aktuell geblieben: Schon früh hat sich der Philosoph, der 1885 in Ludwigshafen geboren wurde, über das US-amerikanische Exil 1949 nach Leipzig kam und der DDR 1961 den Rücken kehrte, mit der "Hybridität" von Kultur befasst. Das Gemischte, den ästhetischen Rührkuchen aus "flach" und "tief", hat er aufgerührt und abgeschmeckt.
Kitsch und Kolportage hatten es ihm dabei besonders angetan: "Der Traum der Kolportage ist: nie wieder Alltag; und am Ende steht: Glück, Liebe, Sieg. (...) aktive Ausfahrt in den Orient des Traums", schrieb Bloch im Prinzip Hoffnung, seinem 1949 erschienenen Hauptwerk, einer monumentalem Schatztruhe, in der Spuren von Utopie und Hoffnung aus Technik, Ökonomie, Literatur, Religion, Psychologie und Philosophie von der Antike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts archiviert sind. Blochs Fazit lautet: das einzig Unveränderliche in der Geschichte sei der Blick der Menschen "in die utopische Richtung", in die Richtung von "Glück, Freiheit, Nicht- Entfremdung", hin zum "goldenen Zeitalter" und zum "Land, wo Milch und Honig fließt". Dieses Ergebnis mündet in seine These von der Unfertigkeit der Welt: Die wirkliche Genesis, die wirkliche Schöpfung sei "nicht am Anfang, sondern am Ende". Will sagen: sie kommt noch.
Um sein Credo - "Ich bin, also hoffe ich" - zu untermauern, führt Bloch auch medizinische Konzepte an, den Leib umzubauen und streift dabei die Problematik der Gentechnik. Auch das zeigt seine Aktualität, obwohl Bloch vor über 50 Jahren selbstverständlich keine ethischen Fragen lösen konnte, die in unserer Gegenwart noch ungelöst sind.
Ein wunderbar kreativer Kolporteur war Bloch, der in seinem Panoptikum menschlicher Hoffnungen auch jene Traumbilder als Zeugen aufrief, die durch Kitsch und Kolportage, durch Märchen und Jahrmarkt hindurch schimmern. Besonders hatte es ihm dabei Karl May angetan. Dieser sehnsüchtige Spießbürger habe den Muff seiner Zeit durchstoßen, schrieb er in Erbschaft dieser Zeit, einer Momentaufnahme der ästhetischen Hinterlassenschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Hinterlassenschaft wollte er in seinem 1935 erschienen Werk vor den Klauen der Nazis und der verfälschenden Indienstnahme durch sie retten. Mancher "Fisch" könne so "ans Land" gezogen werden, "der nicht ins fascistische Brackwasser" gehöre. Dazu zählte Bloch Winnetou gerade so wie den Expressionismus. Bloch begab sich damit in einen frontalen Gegensatz zu einer kommunistischen Kulturpolitik, die sich seiner Ansicht nach zu wenig der "spezifischen und sehr komplizierten, wenn auch minderen Wirklichkeit" des "falschen Bewusstseins" zuneigte. Bloch aber neigte sich, und er neigte sich mit Vergnügen.
Es macht eine Stärke des Erzählers und Denkers Bloch aus, dass er nicht vom hohen Ross aus über den Kitsch der anderen schwadroniert, sondern selbst zu seinen "kitschigen" Gefühlen steht. In den Abwässern des sogenannten schlechten Geschmacks sei auch "manche Piratenkiste" zu finden, "die erst Vernunft öffnet und erbt" (Erbschaft dieser Zeit). Bloch geht selbst daran, die Piratenkiste zu knacken und die funkelnden Edelsteine des Kitsches neu zu gruppieren. Gerade hierin gelingt ein Mehr an Erkenntnis, das mit kritischer Analyse allein nicht zu habe wäre. Das zeigt auch die Miniaturensammlung Spuren. Hier hat Bloch "liebhaberhaft, im Erzählen merkend, im Merken das Erzählte meinend" Schicksale von Menschen (und einer Katze) vorgeführt. Die Texte sind assoziativ, allegorisch, philosophisch, von anderen Autoren entliehen. Da steht etwa auf viereinhalb Zeilen die Geschichte einer armen Frau, die im Dunkeln sitzt, nicht einfach so, sondern um Licht zu sparen. "Da es nicht für alle reicht, springen die Armen ein. Sie sind für die Herren tätig, auch wenn sie ruhig und verlassen sind." Weit hoffnungsvoller ist die Geschichte vom Leopardenkätzchen, das überraschenderweise einen Rottweiler Metzgerhund erlegt, statt von ihm gefressen zu werden, weil es sich "in höchster Not, auf das einzige ihm gegebene Mittel konzentriert (hatte), auf den angestammten Sprung nach der Kehle des Feinds". Die Überraschung des Lesers - ein durchaus kolportagehafter Spannungsbogen - ist hier ebenso bedeutsam wie die Moral von der Geschicht´: dass der kleine Mann und die kleine Frau bestehen können, wenn sie ihre Kräfte sammeln und sich nicht verzetteln.
All das ist vielleicht gerade deswegen heute ästhetisch aufregend, weil sich "hohe" und "populäre" Kultur immer mehr berühren. Und es bleibt auch deshalb aktuell, weil Bloch mit Philosophie gelingt, was sonst nur Film, Theater und Literatur vermögen: unmittelbar Kopf und Bauch anzusprechen. Er hat ein Kunstwerk geschaffen, und das mit vielen Etagen, in denen Kritik und Erkenntnis gerade so wie Genuss und Sehnsucht wohnen. Seine "Spurensuche", sein detektivischer Zugriff (natürlich liebte er auch Detektivromane) nimmt zudem die Haltung des heutigen Internetbenutzers vorweg, der auch selbst suchen muss, um zu finden.
Dabei verliert Bloch die Richtung der Sehnsucht und des Hoffens nicht aus den Augen: den Aufbruch zur wirklichen "Heimat" des Menschen "ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie". Zielinhalt eines "echten Marxismus" sei die "Beförderung der Menschlichkeit". Von Ernst Bloch lässt sich auch lernen, dass der Slogan "Es gibt eine andere Welt" nicht nur politisch im engeren Sinn bleiben darf, wenn er haltbar und nachhaltig sein soll. Er wird sich wohl die Theaterbühnen, die Computerspiele und die Schund- und Kitschvideos von heute gerade so erobern müssen wie die Bildungseinrichtungen, von der Kindertagesstätte bis zur Universität. Vielleicht kann dieser Slogan sogar die Trennwände zwischen diesen kulturellen Äußerungsformen und Institutionen einreißen helfen.
Apropos Bildung: Hoffnung müsse gelernt werden, hat Bloch gesagt. Ohne Hoffnung als reflektierter Gedanke, als Gefühl und als Lernziel lässt sich allemal kein Bildungssystem reformieren. Denn: "Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen."

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