FREITAG: Derzeit wird in Deutschland wieder lebhaft über Patientenverfügungen diskutiert, während die Debatte um die anstehende Reform der Pflegeversicherung nur schleppend in Gang kommt. Sehen Sie Bezugspunkte und glauben Sie, dass über Patientenverfügungen diskutiert wird, weil man über die Pflege nicht sprechen will?
THOMAS KLIE: Die beiden Gesetzesinitiativen haben zwar eine thematische Verbindung, werden aber doch in sehr unterschiedlichen Kontexten diskutiert. Während es im einen Fall darum geht, wie wir den sozialstaatlichen Beitrag zur Pflege ausgestalten können, geht es im anderen um die Selbstbestimmung und Autonomie des Patienten angesichts von dramatisiert kommunizierten Lebensende-Konstellationen - etwa bei Wachkoma-Patienten.
Diese Diskussion wird derzeit in vielen europäischen Ländern geführt.
Ja, denken Sie nur an die kürzliche Erklärung von 2.000 Ärzten in Frankreich, die einräumen, sie hätten Menschen zu Tode gebracht und sich wünschen, dass dies entkriminalisiert wird. Ich bin ein entschiedener Gegner einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen - zumindest zu diesem Zeitpunkt -, weil Sekundärwirkungen auf einer ganz anderen Ebene zu befürchten sind. Die Sorge um menschenwürdige Bedingungen am Lebensende könnte Menschen dazu bringen, eine Patientenverfügung zu unterschreiben. Gerade das wäre dann nicht Ausdruck von Selbstbestimmung. Wir sollten also zuerst für Rahmenbedingungen in der Pflege sorgen, um Menschen nicht aus Angst vor einem unwürdigen Lebensende zu veranlassen, in Patientenverfügungen Auswege zu suchen.
Ende 2005 zählte die Statistik 2,13 Millionen Pflegebedürftige, bis 2040 werden es rund vier Millionen sein. Gleichzeitig verändern sich die Lebensumstände, wir müssen mobiler und flexibler sein, was sich mit langfristiger Betreuungsarbeit nicht verträgt. Und die Pflegekasse steht früher oder später vor dem Exodus. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Die Sicherung der Pflege ist auf Dauer über die Pflegeversicherung nicht möglich, sie ist auf die Solidaritätsbereitschaft in Familien und in der Partnerschaft angewiesen, aber eben auch auf die Solidarität zwischen den Generationen. Mit der innerfamiliären Pflegebereitschaft in dem tatsächlichen Ausmaß hat der Gesetzgeber 1994 bei der Einführung der Pflegeversicherung nicht gerechnet. Die Pflegekasse wäre schon um die Jahrhundertwende finanziell am Ende gewesen, wenn die damals angenommenen Bedingungen eingetreten wären. Schon da war bereits absehbar, dass ein umlagefinanziertes System langfristig keine Zukunft hat. Das war durchsetzbar, weil die Bevölkerung an das System der Sozialversicherung glaubt und hofft, dass es Stabilität schafft. Wir werden aber ein solches Sicherungsniveau, wie wir es heute haben, für nachfolgende Generationen nicht erhalten können.
Plädieren Sie stattdessen eher für kapitalgedeckte Versicherungslösungen?
Ich würde für eine Mischfinanzierung plädieren - aus Umlage, Kapital und Steuer - und schauen, wie die Mittel effektiv einzusetzen sind. Pflege bleibt eine sozialstaatliche Aufgabe. Sie wird überwiegend in Netzwerken geleistet - traditionell in Familien, künftig vielleicht auch in anderen Netzwerken. Wenn man will, dass dies so bleibt - trotz rückläufiger Kinderzahlen, einer höheren Frauenerwerbstätigkeit und zunehmender Mobilität - dann muss man investieren in die Pflegebereitschaft der Menschen und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Pflegepolitik ist vor allem auch Familienpolitik. Nicht nur Kindererziehung und Berufstätigkeit sollten zu vereinbaren sein, sondern wir müssen auch die Pflegearbeit und die Transferleistungen darauf ausrichten.
Aber nimmt die Pflegebereitschaft in den Familien nicht generell ab? Wie haben wir uns die von Ihnen genannten Netzwerke vorzustellen?
Nach wie vor gelingt es vielen Familien immer noch - bei allen Belastungen, die das mit sich bringt - die Pflege ihrer Angehörigen zu sichern. Dennoch gibt es regionale und milieuspezifische Unterschiede. Die Bereitschaft, allein und ohne professionelle Unterstützung zu pflegen, ist im bürgerlichen Milieu sehr viel weniger ausgeprägt als in der traditionellen Unterschicht, insbesondere im Migrantenmilieu oder in Haushalten, die auf das Pflegegeld angewiesen sind. Wenn aber die Familien kleiner werden, wird es wichtiger, dass man Netzwerke mit einem gemeinsamen Wertehintergrund pflegt. Wir brauchen solche modernen leistungsfähigen Netzwerke, und wir sollten viel stärker auf ein Leitbild der geteilten Verantwortung setzen: Familienangehörige, Freunde und auch bürgerschaftlich Engagierte teilen sich die Aufgaben mit den Fachkräften und andern Berufstätigen, die bei der Assistenz Aufgaben übernehmen.
Das heißt, wir brauchen neue Unterstützungsmodelle, die die Last der Angehörigen vermindert.
Die Last muss verteilt werden, würde ich sagen. Alleinpflegende Angehörige sind oft überfordert, und Depressionen sind in dieser Gruppe besonders verbreitet. Das Leitbild "Heldin der Pflege" ist einfach nicht mehr zeitgemäß und gefährlich für sie selbst und die Pflegebedürftigen, weil die Isolation und die auf zwei Personen konzentrierte Pflegesituation überfordert. Unter Umständen kann das in einer Gewaltspirale münden.
Alle Beteiligten beklagen, dass seit 1995 die Pflegesätze nicht mehr angehoben wurden. Was müsste hier passieren?
Durch eine stärkere Flexibilisierung der Leistung und des Marktes ließe sich eine deutlich höhere Bedarfsdeckung erzielen, das zeigen die Erfahrungen mit dem personenbezogenen Pflegebudget, das wir aus dem Behindertenbereich kennen. Unter der Voraussetzung, dass nicht alles geleistet werden kann, überlässt man es dem Betroffenen, der fachlich beraten darüber entscheidet, was ihm besonders wichtig ist. Man könnte aber auch die Leistungserbringer einladen, flexible Leistungspakete anzubieten, die sich von den präformierten Pflegeversicherungsleistungen lösen. Dagegen wehren sich die Pflegedienste, die Einkommensverluste befürchten und die bisherigen Tarife nicht verlieren wollen. Das kann aber kein Argument gegen eine Marktflexibilisierung sein. Die Pflegeversicherung ist primär für die Betroffenen da und keine Versicherung der Dienste.
Derzeit werden zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zuhause versorgt, rund 670.000 im Heim. Obwohl das Heim aber erheblich teurer ist, hat man den Eindruck, dass das Prinzip "ambulant vor stationär" von der Politik gar nicht erwünscht ist, denn je nach Pflegestufe wird die stationäre Unterbringung stärker subventioniert als die ambulante. Wie erklären Sie sich das?
Die Abwägungen ob Heim oder nicht Heim sind bei den Betroffenen meist ökonomischer Art: Es wird überlegt, was das Heim kostet, weil durch die Zuzahlung möglicherweise ein Erbe verloren geht oder die Kinder zuzahlen müssen. Oder es wird abgewogen, welche Nachteile mit der Pflege verbunden sind, für den Beruf oder für den Urlaub, und wie sie die Familie belastet. Auch das sind letztlich ökonomische Erwägungen, die viel stärker wirken als moralische. Dies und das generell schlechte Image von Heimen führen zu einer deutlichen Begrenzung der Heimunterbringungen Zusätzlich wird mancherorts geprüft, ob bei Pflegestufe I überhaupt eine Heimbedürftigkeit vorliegt, wenn die Sozialhilfe zuzahlen müsste. Sie haben aber insofern recht, als sehr viel Geld aus dem Topf der Pflegeversicherung in die Heime geht und das Leistungsrecht mit dem Grundsatz ambulant vor stationär nicht Ernst macht.
Seit Jahren gibt es eine Diskussion, dass dem Leistungsrecht ein unzulänglicher Pflegebegriff zugrunde liegt, weil er einseitig am körperlichen Befinden orientiert ist. Das Ministerium hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um den Pflegebegriff zu überarbeiten. Wie bewerten Sie diese Debatte und auf welche Weise würden Sie sich den Pflegebegriff ausgedehnt wünschen?
Pflege dient ja der Sicherung der Lebensqualität, und mir erscheint bei der Überarbeitung des Pflegebegriffs wichtig, dass künftig alle relevanten Bedarfe erhoben werden, auch die, die über das hinausgehen, was die Pflegeversicherung bisher zu leisten in der Lage ist. Notwendig sind auch Maßnahmen, um die Pflegebedürftigkeit zu verhindern und es pflegebedürftigen Menschen ermöglichen, an der Gesellschaft teilhaben zu können. Sie müssten zusammen mit Fachkräften aushandeln können, was geboten und was individuell erwünscht wird, so etwa wie das in den Niederlanden der Fall ist. Das hätte eine Veränderung der Begutachtung zur Folge, weil es ja nicht nur darum ginge, eine Pflegestufe festzustellen. Die wäre dann nur das "Abfallprodukt" eines solchen Verfahrens. Die Ausweitung des Pflegebegriffs, das muss man deutlich sagen, führt aber nicht automatisch zu einer Leistungsausweitung und darf dies auch nicht.
Der Druck auf die Pflegekasse entsteht auch, weil Demenzkranke in das Sicherungssystem der Pflegekasse einbezogen werden sollen. Sie werben seit Jahren dafür, dass das Leben mit Demenzkranken nicht nur Last, sondern auch Gewinn sein kann.
Wir wissen dank unserer Göttinger Kollegen um Andreas Kruse, dass wir in absehbarer Zeit keine Therapien für Demenzkranke haben werden und es in diesem Bereich Hilfebedarf nicht-pflegerischer Art gibt. Menschen mit Demenz geben viele Anzeichen für Zufriedenheit, wenn sie unter verträglichen Bedingungen und eingebettet in helfende Beziehungen leben. Man darf das nicht verklären, aber ihr Leben gelingt offenbar in anderer Weise, als wir uns mit unserem selbst kontrollierten Konzept von Zufriedenheit annehmen. Für uns besteht die kulturelle Herausforderung darin, dass wir nicht nur allen Menschen ein Lebensrecht zusprechen, sondern auch Lebensqualität und Zugehörigkeit. Das hängt nicht nur von sozialen Sicherungssystemen ab, sondern von der Grundhaltung der Gesellschaft. Wir können viel dazu beitragen, dass Menschen mit Demenz gewürdigte Menschen sind und sich als solche empfinden.
Aber wir pflegen doch gerade unser Bild von Selbstbestimmung und Autonomie?
Der Zivilisationsprozess unserer Gesellschaft zielt immer stärker auf die Kontrolle zwischenmenschlicher Beziehungen und auf Selbstkontrolle ab. Wir bräuchten eine Zivilisation zweiter Ordnung, die unsere Gesellschaft an den kulturellen Wert erinnert, jeden Menschen, unabhängig von dem, was er ist und kann und unabhängig von unseren Konventionen, als lebenswert und lebendig zu sehen. Dieser Aspekt ist gerade auch im Kontext von Patientenverfügung und Sterbehilfe von großer Bedeutung. Wir dürfen nicht provozieren, dass pflegebedürftige oder demenzkranke Menschen ihr Leben als lebensunwert betrachten. Und denken Sie daran, dass viele Menschen, wenn sie über 40 sind - und ich gehöre dazu - Erfahrung mit Pflege haben und sagen, das hat die Prioritäten in meinem Leben verändert.
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
Professor Dr. Thomas Klie lehrt öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Fachhochschule Freiburg und ist unter anderem Experte für soziale Gerontologie und zivilgesellschaftliches Engagement.
Nachdem am 1. April der erste Teil der Gesundheitsreform in Kraft getreten ist und das Gesundheitsministerium in einer großangelegten Anzeigenkampagne verbale Beruhigungspillen verabreicht, ist die nächste Sozialbaustelle, die Reform der Pflegekasse, schon weiträumig abgesteckt. Die 1995 eingeführte und im Gegensatz zu den übrigen Sozialkassen von den Versicherten alleine finanzierte Pflegeversicherung wird weder die Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt noch die demografischen Veränderungen der kommenden Jahrzehnte auffangen können. Zwar ist die Pflegekasse keine Rundum-Versicherung, sondern gewährt nur eine Grundversorgung. Doch seit ihrer Einführung wurde der Beitragssatz von 1,7 Prozent - abgesehen vom so genannten Kinderlosen-Zuschlag - nie erhöht, und auch die Pflegesätze wurden seither nicht angepasst. Inzwischen müssen 28 Prozent aller Pflegebedürftigen und mehr als die Hälfte der Heimbewohner (in Pflegestufe III) aus eigener Tasche draufzahlen oder bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch nehmen.
Doch nicht nur der finanzielle Rahmen der Kasse soll überdacht werden, sondern auch die Rahmenbedingungen der Pflege. So sind heute demenzkranke Menschen immer noch erheblich schlechter versorgt, weil sich die Pflegebedürftigkeit vorwiegend an ihrer körperlichen Verfassung orientiert, ihr Pflegebedarf unter Umständen aber größer ist als bei körperlich Eingeschränkten. Ein wichtiger Neuansatz könnte auch die Einführung des persönlichen Pflegebudgets sein, das seit 2004 bereits im Behindertenbereich getestet wird. Statt an die Dienstleister oder Heime zahlt die Pflegekasse unmittelbar an die Betroffenen, die eigenständig Leistungen auf dem Markt einkaufen. Zur Disposition stehen auch die starren Pflegestufen, die dazu führen, dass gute Pflege - etwa wenn sich ein Patient so gut erholt, dass er in die jeweils niedrigere Stufe kommt - bestraft wird.
Um ein Szenario wie bei der Gesundheitsreform zu vermeiden, wollte Gesundheitsministerin Schmidt ursprünglich gemeinsam mit ihren Kollegen Horst Seehofer und Ursula von der Leyen bis Frühjahr ein Konzept vorlegen. Doch die exklusiv tagende Runde wurde im März durch einen Querschuss aus Bayern aufgeschreckt: Sozialministerin Christa Stewens schlug vor, die Pflegekasse durch die Einführung von pauschal sechs Euro pro Versicherten finanziell zu stabilisieren. Diese "kleine" Kopfpauschale wurde seitens der SPD, die lieber auf eine moderate Beitragsanhebung setzt, schon aus ideologischen Gründen verworfen. Der im Hinblick auf die Gesundheitsreform beigelegte Streit Kopfpauschale versus Bürgerversicherung droht sich im "Pflegefall" zu wiederholen.
Die Sozialdemokraten wollen dieses Mal auch die Privatversicherten mit ins Boot holen, weil sie das derzeitige System für ungerecht halten. Diese zahlen bisher zwar weniger ein, erhalten aber die gleichen Leistungen aus der Kasse. Dieser Vorstoß findet auch Unterstützung in der Opposition. In einem bereits Ende vergangenen Jahres vorgestellten Reformpapier drängen die Grünen auf eine solidarische Finanzierung der Pflege, zumindest aber auf die Einführung eines Finanzausgleichs zwischen privater und gesetzlicher Versicherung und auf den Aufbau einer Demographiereserve.
Die unionsregierten Länder reagierten auf den bayrischen Alleingang eher verhalten, vor allem, weil mit sechs zusätzlichen Euro keine Pflege zu machen ist, auch wenn sie über zwanzig Jahre angespart und verzinst werden.
Bemerkenswert ist, dass in den letzten Wochen zwar viel über das individuell bestimmte und geplante Lebensende diskutiert wird, aber nicht über würdiges Leben im Alter. Die Reform der Pflegekasse könnte hierzu endlich ein Anlass sein.
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