Die globale Bildermaschine

Der Papst, der Karneval und der Terror Der Einsatz von Handyfotografie bei Medienereignissen nährt die problematische Utopie einer "demokratischen Berichterstattung"

Das Warten auf die Ankunft des Rheindampfers mit dem obersten Hirten kann lang werden. Besonders für diejenigen, die eine Live-Sendung moderieren. Und so werden die Fernsehkommentatoren während des Weltjugendtags oder der Papstwahl bei ihrem zunehmend redundanten Verkünden von Pseudoexpertenwissen sicherlich das eine oder andere Mal erklärt haben, was "katholisch" eigentlich bedeutet. Nämlich "allgemein", "die ganze Erde umfassend". Und ganz sicher wurden dann die Bilder der Menschenmassen auf dem Petersplatz gezeigt, um sinnfällig ausrufen zu können, dass die Kirche mit Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wieder einmal alle Menschen betrifft. Die von den Fernsehkameras eingefangene Menschenmenge wurde zur Verkörperung der unsichtbaren Millionen vor den Fernsehern rund um die Welt.

Was aber taten die Menschen auf dem Petersplatz oder am Rheinufer, diejenigen, die vor Ort Augenzeugen waren? Sie schauten nicht nur auf die Loggia des Petersdoms oder das Deck des Dampfers, sondern schufen sich eigene Bilder mit ihren Handykameras. Sie simulierten den Blick des Massenmediums, indem sie die journalistischen Bilder fürs eigene digitale Fotoalbum kopierten. Auch ohne fernzusehen wurden sie somit noch aktive Teilnehmer des Katholizismus der Massenmedien. Denn allgemein war nicht nur wieder die Kirche geworden, allgemein scheinen auch die Kameras zu sein, als Mittel der Beobachtung wie als Beobachtetes.

Die Fernsehanstalten schwelgten in den Bildern von bildermachenden Menschen. Nicht enden zu wollen schien deren Bemühen um die besten Bilder, und zugleich war es als Versuch, mit Handys die Bilder der Medien zu reproduzieren, zum Scheitern verurteilt. Denn für die massenmediale Produktion der Papst-Ereignisse war diese Arbeit entbehrlich. Die Bilder, die mit den Minikameras aufgenommen wurden, waren für das große Publikum uninteressant. Fernsehmacher und Fernsehzuschauer konnten sich darin bestätigen, dass sie die gleichen Bilder in besserer Qualität zur Verfügung hatten und am Ende vielleicht sogar die besseren Augenzeugen waren.

Was man bei den Menschen beobachten konnte, war also die inzwischen geradezu reflexhaft gewordene Gewohnheit, die Welt mediatisiert wahrzunehmen. Schon während der Lichterkettenaktion 1993 in Köln konnte man in der Menge Leuten zuhören, die einander erzählten, dass sie jetzt schnell nach Hause müssten, um die Tagesschau mit den Bildern des gerade Erlebten sehen zu können. Man glaubt eben nur noch, was man sieht, und Sehen wird mit dem Kamerablick von Massenmedien gleichgesetzt: näher, schneller, schärfer.

Von der Tour de France 2003 gibt es ein berühmtes Foto, auf dem man Menschen am Straßenrand vor einem Fernseher versammelt sieht, die gebannt den Bildern des Pelotons folgen, das in diesem Moment hinter ihnen vorbeirast. Wenn früher die Japaner noch belächelt wurden, weil sie ihre "zehn Tage Europa" ausschließlich durch die Objektive ihrer Kameras erlebten, so hat sich diese neue Weltanschauung inzwischen auch in der Alten Welt durchgesetzt.

Die flächendeckende Wahrnehmung der Welt durch Kameras, insbesondere Handykameras, beginnt allerdings auch Folgen für die Berichterstattung über die Welt zu haben. Die Terroranschläge in London sind dafür das aktuellste Beispiel. Nur Handykameras ermöglichten Bilder vom Geschehen in den U-Bahnen, kurz nachdem die Bomben explodiert waren. Die Fotografinnen und Filmer dokumentierten so das schreckliche Geschehen. Ein Zeugnis für sich und für andere produzieren zu wollen, gehört wohl dazu, damit man in einer solchen Situation zur Kamera greift. Es ist hier kaum mehr möglich, zwischen persönlichem Erinnerungsbild und öffentlichem Medienbild zu unterscheiden. Die gewohnte Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem wird im Gebrauch der neuen Technik überschritten und verschoben. Denn das Bild der eigenen Kamera kann nicht nur später dem Bekanntenkreis, sondern via Internet sofort einem Publikum zugänglich gemacht werden, dass potentiell den ganzen Globus umfasst.

Mit dieser globalen Dimension des Internet verbindet sich für manche das Versprechen einer alternativen und ›demokratischen‹ Berichterstattung, bei der jetzt auch jeder als Bild-Journalist tätig werden kann, der über ein Mobiltelefon mit Kamera verfügt. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn das Internet stellt zunächst einmal nur eine potentielle Erreichbarkeit her. Zum wirkungsvollen Massenmedium wird es erst dann, wenn eine kritische Masse von Nutzern ein bestimmtes Angebot auch in dem Wissen nutzt, dass andere es ebenfalls nutzen. Hier haben die traditionellen Bild-Massenmedien Zeitung und Fernsehen in punkto Reichweite allerdings nach wie vor Vorteile. Und so verwundert es nicht, dass die Handybilder erst in Verbindung mit diesen Massenmedien zum Ereignis werden, dann nämlich, wenn sie dort selbst zur Produktion von Ereignissen beitragen.

Als Produkte einer medial verdoppelten Augenzeugenschaft vergrößern sie bei den Terroranschlägen, anders als auf dem Petersplatz, das Bildangebot der Massenmedien an entscheidender Stelle. Deren Kameraleute sind nicht schon im voraus optimal platziert. Sie kommen bei Anschlägen immer zu spät. In London konnten sie dann nur noch die Rettungsmannschaften zeigen und die Menschen, die verletzt aus den U-Bahn-Stationen kamen. Handyfotografen hingegen waren auch bei den Explosionen in den U-Bahnen vor Ort und begannen sofort, Bilder zu machen. Die Nähe zum Geschehen ist ihr massenmediales Kapital. Unter diesen Umständen ist auch die schlechte Bildqualität kein Problem. Eher im Gegenteil. Wird das Geschehen selbst als zerstörerisch und chaotisch empfunden, steigern unscharfe und verwackelte Bilder das Versprechen von Authentizität.

Bei den Londoner Terroranschlägen waren also nicht Bilder von Menschen, die mit Mobiltelefonen Bilder machen, sondern einzelne Handybilder selbst für die Massenmedien interessant. Als Bilder vom Geschehen selbst füllen sie eine Stelle im Konzept der Berichterstattung, die zwar vorgesehen, mit herkömmlichen journalistischen Mitteln aber nicht zu besetzen war. Ist sie jedoch einmal gefüllt, radikalisiert sich sofort die Erwartung an Aktualität unter den veränderten medialen Bedingungen.

Fortan gilt: Irgendeine Bildermaschine ist immer vor Ort und auch jemand, der plötzlich als Journalist tätig wird. Man muss ihn nur finden. Und so werden selbst Anschlagsopfer sofort zu freien Mitarbeitern von Fernsehen und Presse, mit allen Vor- und Nachteilen dieses ›Jobs‹. Sie sind zwar frei, in der Entscheidung, ob oder für wen sie berichten, aber gleichzeitig ersetzbar und eher schlecht bezahlt. Von Demokratisierung der Berichterstattung zu sprechen, wäre übertrieben. Zwar können die Bilder inzwischen von allen gemacht werden, aber gerade deshalb bedarf es der Nobilitierung durch die Massenmedien, die etwas aus dem Allgemeinen auswählen und damit zum Besonderen machen.

Diese Nobilitierungsfähigkeit ist ihr letztes Privileg. Je prekärer ein Privileg ist, desto größer ist die Neigung zum Ausschluss, also dazu konkurrierende noble Sichtweisen zu unterdrücken oder zu ignorieren. Das zeigt ein Beispiel aus dem diesjährigen Karneval. Gegenstand des Interesses waren erneut Handybilder, die es als journalistische Bilder so nicht geben konnte. Bilder, die es als öffentliche Bilder jenseits der geregelten Verwertungsrechte des WDR-Fernsehens aber auch nicht geben sollte. Es ging dabei allerdings nicht um spektakuläre Motive, die konnte der WDR ja - wie die Journalisten auf dem Petersplatz - besser selbst produzieren, sondern um eine prominente Handy-Fotografin und ihren Weblog.

Heidi Klum hatte angekündigt, während ihrer Teilnahme an den Karnevalsumzügen in Bergisch-Gladbach und Köln Bilder zu machen und sie ›live‹ auf einer eigenen Website zu präsentieren. Diese alternative Live-Übertragung entspricht den von den Telefonherstellern erwarteten Nutzungen mobilen Bildertauschs unter Freunden so gut, dass bei einer Werbeträgerin wie Heidi Klum kaum von einem privatem Interesse auszugehen ist. Und da es bei organisierten Events wie Karnevalsumzügen seitens der Fernsehsender zwar keinen zusätzlichen Bedarf an Bildern, wohl aber Rechte an ihrer Verwertung gibt, versuchte der WDR etwas gegen Heidi Klums Live-Bilderbuch zu unternehmen.

Da es aber unmöglich war, Handyfotos allgemein zu verhindern, entschloss man sich schließlich - nicht ganz uneigennützig - Heidi Klum gewähren zu lassen, wenn sie auch für das hauseigene Internetangebot fotografiere. Sie wurde, wie Peter V. Brinkemper es in einem Artikel für das Internetmagazin telepolis ausdrückte, zum ›embedded carnivalist‹. Was sie dann fotografierte, war, wie schon in den vorigen Fällen, im Grunde egal. Dass sie als Prominente massenmedienwirksam fürs Web fotografierte, trägt allerdings zu einer engen Verbindung von verschiedenen Formaten wie Live-Sendungen und Web-Portalen bei, durch die sich die mediale Produktion von Unterhaltungsevents nachhaltig verändert. Allerdings nur die Produktion. Die Auswahl der Produzenten und die Distribution des Produkts wird weiterhin durch die Massenmedien geregelt.

Man mag die demokratischen Defizite dieser Medienöffentlichkeit bedauern. Eine uneingeschränkte Verbreitung von Nachrichten aller an alle steht aber auch mit der Verbindung von Fotohandy und Internet nicht bevor. Diese Vorstellung bleibt was sie ist, eine Utopie. Das gilt aber auch für die negative Version: die totale Kontrolle durch einen medienindustriellen Komplex, der sich allein an Quote und Geschäftserfolg orientiert, und daher sinnlose Innovationen an verblendete Zuschauer vermittelt. Die Begeisterung von Medienvertretern über die "eindrucksvollen" Bilder aus den Londoner U-Bahnen als bloße Propaganda zu verstehen, mit der eine bis dato entbehrliche "killer application" der Mobilfunkindustrie unters Volk gebracht werden sollte, wie es Christoph Schultheis in einem taz-Artikel getan hat, ist plumper Retro-Marxismus.

Kommunikationstechnische Innovationen brauchen gesellschaftliche Ereignisse wie die genannten, an denen sich Handhabungsmöglichkeiten zeigen. Ob diese nun von Anfang an so geplant waren, wie beim Event-Weblog, oder ob Menschen ein unerwartetes Geschehen gerade auf diese Weise für sich handhabbar machen, wie in London. Erst dieser kommunikative Gebrauch macht technische Möglichkeiten zu Medien. Sie werden als Medien gleichsam in solchen Ereignissen ›erfunden‹. Jenseits der etablierten Medienöffentlichkeit mit all ihren Defiziten sind solche Erfindungen aber nicht zu haben. Denn erst mit der massenmedialen Verbreitung erschließen sich neue Gebrauchsmöglichkeiten für ein Publikum, das in dieser Breite anders kaum zu erreichen ist.

Alle geschilderten Ereignisse sind also kreative soziale Konstellationen. Sie tragen dazu bei, einen bestimmten Mediengebrauch zu erproben und zugleich sozial zu etablieren. Das bedeutet immer Einschränkungen. In der großen Verbreitung liegt aber auch ein Potential für weitere Kreativität. Die Qualität medialer Innovationen bemisst sich eben nicht nur daran, ob der einmal etablierte Gebrauch sich in anderen Situationen bewährt, sondern auch daran, wie viele weitere Gebrauchsmöglichkeiten von den Nutzerinnen nach der Erfindung noch gefunden werden. Hier sind Utopien, wie die von der Demokratisierung der Nachrichten, wichtige Triebfedern.

Die Verfasser sind Mitglieder des Graduiertenkollegs "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart" der Universität Gießen.


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