FREITAG: Die Darstellung von Gewalt ist seit je ein zentrales Element in Ihrem Kino. Hat sich Ihre Sichtweise in den letzten Jahren verändert, seit die Gewaltdarstellung durch den Krieg eine neue Anschaulichkeit in den Medien gewonnen hat?
DAVID CRONENBERG: Bei der Szene, in der zu Beginn von Tödliche Versprechen einem Mann der Hals aufgeschnitten wird, musste ich tatsächlich an Bilder einer Enthauptung denken, die ich im Internet gesehen habe. Seit Jahren wird mir immer wieder die Frage gestellt, ob wir gegenüber der Gewalt abstumpfen. Ich denke, heute sind die Zuschauer eher noch empfindlicher geworden. Die Amerikaner sehen mit einem Mal, wie ihre Soldaten in Ländern getötet werden, von denen sie noch nie gehört haben, von Menschen, deren politische Ziele sie nicht verstehen. Diese Pornographie der Gewalt ist allgegenwärtig und erschreckend nah: Sie kann jederzeit durch ihren Computer in ihr Haus getragen werden. In Tödliche Versprechen habe ich mir die Frage der Repräsentation also neu gestellt. Mir war klar, dass ich bei diesem Stoff einen hohen Grad an Realismus erreichen musste. Darin liegt auch eine Verpflichtung, Dinge explizit zu zeigen. Wenn wir über Gewalt sprechen, meinen wir schließlich die Zerstörung des menschlichen Körpers. Das ist nichts Abstraktes, egal, welche Beweggründe die Täter haben. Mich reizte die philosophische Dimension, die Unmittelbarkeit, die Brutalität, angesichts derer alle religiösen oder politischen Rechtfertigungen irrelevant werden.
Wie in "A History of Violence", ihrem vorletzten Film, erscheint Gewalt als etwas sehr Intimes. Woraus entsteht dieser Eindruck?
Am Drehbuch zu Tödliche Versprechen faszinierte mich, dass keine Schusswaffen vorkommen, sondern nur Messer. Das ist eine sehr britische Sicht auf die Gewalt - traditionell trugen britische Polizisten ja keine Schusswaffen, was sich mittlerweile allerdings geändert hat. Wenn man jemanden mit einer Schusswaffe tötet, selbst aus einer Entfernung von nur ein paar Schritten, wahrt man eine Distanz. Man kann die Situation objektivieren. Wenn man hingegen ein Messer benutzt, ist das sehr intim. Man riecht sein Opfer, hört es atmen, spürt jede Bewegung in seinem Körper. Den russischen Gangstern, von denen ich erzähle, ist diese körperliche Nähe ungemein wichtig, sie ist wie eine persönliche Bestätigung, Beglaubigung. In der Wahl der Waffe drückt sich ihre Mentalität aus, das Erbe der Jahrhunderte andauernden, düsteren, fatalistischen und stark religiös geprägten Kulturgeschichte Russlands.
Wirken beide Filme nicht auch deshalb so brutal, weil sie die Gewalt in ihrer Integrität zeigen?
Ja. Tatsächlich gibt es ja nur drei, vier Gewaltszenen. Sie nehmen vier Minuten in einem Film ein, der insgesamt 100 dauert und in dem die Figuren die meiste Zeit mit Sprechen verbringen. Jeder Film schafft sich seine eigene Realitätsebene. Wenn Sie einen Film wie The Bourne Ultimatum drehen, wollen Sie ihr Publikum nicht mit den Konsequenzen der Gewalt behelligen. Es soll sich vielmehr wie auf einer Achterbahn fühlen. Das Gleiche gilt für die Verfolgungsjagden: Die sind großartig anzuschauen, aber man glaubt nie, dass so etwas wirklich möglich ist. Das ist gar nicht als Geschmacksurteil gemeint. Ich mache in meinem Film nur eben etwas Anderes.
Das Schillern zwischen phantastischen und realistischen Darstellungsformen, das es in Ihrem Kino stets gab, scheint zugunsten der zweiten entschieden zu sein: Die Körper werden nicht mehr auf eine Weise transformiert, wie es in ihren frühen Horrorfilmen geschah.
Aber ich habe auch schon früher Filme über reale Figuren gedreht, etwa Dead Ringers und M. Butterfly. Einige Projekte, die ich nach A History of Violence erwogen habe, waren Science-Fiction- und Horror-Filme. Wenn die Finanzierung geklappt hätte, wäre ich bereit gewesen, sie zu realisieren. Das Kino ist Phantasie, nicht Realität. Es ist ein Spiegel der Wirklichkeit. Was wir auf der Leinwand erleben, hat viel mit der Logik eines Traums zu tun. In einer Szene sind Sie in Istanbul und nach einem Schnitt plötzlich in Paris. Das folgt keiner physischen, sondern einer Traumwirklichkeit. Selbst ein anscheinend realistischer Film funktioniert auf dieser Ebene. Deshalb besteht für mich kein Bruch zwischen den frühen Filmen und dem, was ich in Tödliche Versprechen mache. Auch hier verwandle ich einen Körper. Nikolai wird durch seine Tätowierungen zu einer Phantasiefigur.
Der Körper wird zum Zeichen. Welche Bedeutung haben die dargestellten Symbole?
Sie sind immer doppeldeutig. Und sie stehen nie für das, was man ursprünglich vermutet. Die religiösen Motive, die man auf Nikolais Körper sieht, verweisen nicht auf seinen Glauben. Sie repräsentieren vielmehr die Zeit, die er im Gefängnis verbrachte. Das Bild von Jesus am Kreuz steht dafür, dass er gleichsam selbst gekreuzigt wurde, für die kriminelle Bruderschaft sein Leben aufgegeben hat.
Ist für Sie die Angst vor der physischen und moralischen Kontamination ein zentrales Motiv in "Tödliche Versprechen"?
Ich glaube nicht, dass meine Filme Ängste ausdrücken. Ich beobachte Dinge, die mich interessieren. Meine Denkweise ist anders, als Sie vermuten. In Shivers, einem meiner ersten Filme, gibt es einen Dialogsatz, der mir oft durch den Kopf geht: "Eine Krankheit ist das Resultat der Liebe zweier Organismen." Ein Virus braucht den menschlichen Körper, um zu existieren. Oder denken Sie an eine Schwangerschaft: Ein Fötus ist wie ein Parasit, der Blutzellen und Sauerstoff vom Organismus der Mutter übernimmt. Es findet sogar eine Art Kampf zwischen der Mutter und dem Kind, das in ihr wächst, um die physische Vorherrschaft statt. Aber auf diese Weise entsteht neues Leben. Mich fasziniert nicht die Idee der Kontaminierung, sondern die der Fusion, der Befruchtung.
Auch den Schauplatz London begreifen Sie als einen Organismus -
- und als eine eigenständige Figur.
Gleich die erste Einstellung eröffnet den Blick auf eine multikulturelle, im Gegensatz zu einer kosmopolitischen, Stadt.
Ja, sie beschreibt bereits die Textur des Films: Der Schwenk erfasst einen türkischen Barbierladen, der neben einem indischen Restaurant liegt; man kann sich vorstellen, dass jede Kultur in dieser Straße repräsentiert ist. London rühmt sich, ebenso wie meine Heimatstadt Toronto, eine multikulturelle Metropole zu sein. Darin unterscheiden sie sich von der amerikanischen Idee des Schmelztiegels, in dem sich Menschen aus aller Welt auf magische Weise verwandeln, weil sie ihr kulturelles Erbe aufgeben und amerikanische Wertvorstellungen übernehmen. Es erscheint mir allerdings viel realitätsnaher, dass Menschen eher am Erbe ihrer Herkunft, an ihrer Sprache festhalten.
Mein Film konzentriert sich auf Einwanderer aus Osteuropa, weil man an ihnen besonders genau studieren kann, wie die Globalisierung des Verbrechens funktioniert. In London ist sie auf engstem Raum konzentriert. Die gemeinsamen Geschäftsinteressen zwingen Vertreter unterschiedlicher Volksstämme, die jahrhundertealte Feindschaften verbindet, zusammenzuarbeiten. Dieses Klima von Misstrauen und Duplizität hat Steven Knights Drehbuch sehr gut eingefangen; fast als Allegorie auf den Kapitalismus. Aus Russland schwappt momentan ein primitiver, roher Kapitalismus in den Westen hinüber, dem vierhundert Jahre der Verfeinerung fehlen. Er gehorcht den gleichen Gesetzen der Notwendigkeit und des Misstrauens wie das Verbrechen.
"Tödliche Versprechen" ist nach "A History of Violence" die zweite Auftragsarbeit, die Sie in Folge realisiert haben. Dennoch weisen beide Filme zweifellos Ihre Handschrift auf. Wie stark verändern Sie die Drehbücher, die Sie nicht persönlich zeichnen?
Wenn ein Drehbuch auf meinem Schreibtisch landen würde, das so perfekt ist, dass es keiner Verbesserungen bedarf, würde ich es so belassen. Meine Handschrift wird ohnehin zu sehen sein, denn als Regisseur muss ich an jedem Drehtag zwei- oder dreitausend Entscheidungen treffen - über die Farbe des Fußbodens, den Sitz der Schnürsenkel, über das Licht, das Make-up, über alles Mögliche. Es steckt schon genug von mir in dem fertigen Film, weil alles durch mein Nervensystem, meine Empfindsamkeit gefiltert wird. Und perfekte Drehbücher gibt es nicht, erst recht nicht, wenn man sie selbst schreibt.
Das Gespräch führte Gerhard Midding
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.