Die Gurke

Es hatte etwas Anrüchiges, als ich das Glas auf das Manuskript stellte, aber ich mochte es, wie es so dastand. Die Gurken lagen wie eingemachte ...

Es hatte etwas Anrüchiges, als ich das Glas auf das Manuskript stellte, aber ich mochte es, wie es so dastand. Die Gurken lagen wie eingemachte Phalli darin, am Boden Kraut und Körnchen. Auf der Etikette war ein Anwesen in südlicher Landschaft zu sehen, davor eine Gurke, die das Ganze ums Fünffache überragte. Ich schüttelte das Glas und schaute den schwimmenden Gurken zu. Wie junge Muränen schossen sie durch den Essig, pressten ihre Leiber an das Glas, um dann in stummer Unbeweglichkeit zu verharren. Vom ersten Augenblick an hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas Fernes, grenzenlos Verlorenes uns verband. Wie Verurteilte drängten sie sich in dem engen Behältnis, es waren deren sechs oder sieben.

Im Geiste sonderte ich eine ab, um sie besser studieren zu können. Sie war heller als die anderen, von einem zarteren Grün, leicht gekrümmt, mit einer Vielzahl von feinen Augenpunkten. Plötzlich zuckte ich zusammen. Die Gurke schien sich kaum spürbar zu bewegen, schien mich unverwandt anzusehen. Ich hielt inne. Mein Blick brach sich auf dem leicht spiegelnden Glas, ich sah die Gurke, sah mich und die Gurke. Mit einem Mal ahnte ich, dass auch sie ahnte. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf sie. Ich roch Essig und spürte ihren kühlen, feuchten Leib. Als ich nach einer Weile aus meinem Tagtraum aufschreckte, sah ich verschwommen einen jungen Mann, der verzweifelt sein Gesicht gegen das Glas presste und großäugig auf mein grünes Fleisch starrte.

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