Die Hebamme und das Baby

Nahost-Berichterstattung Alle im Westen verbreiteten Berichte und Reportagen sollten mit den Worten schließen - passt auf!

Journalisten im "Westen" sollten sich großer Schuld bewusst sein, weil vieles, was sich im Nahen Osten abspielt, auf ihre Leichtgläubigkeit stößt und oft dazu führt, dass eine fiktive statt einer authentischen Version der Ereignisse verkauft wird. Der ständige Verweis auf einen "Zaun" statt auf eine Mauer in der Westbank, auf "Siedlungen" statt auf (israelische) Kolonien, die Kennzeichnung der Westbank als "umstrittenes" statt als besetztes Gebiet münden in eine oberflächliche Darstellung des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Nicht anders verhielt es sich im Irak, als viele Korrespondenten großer westlicher Blätter und Fernsehkanäle die lächerliche Formulierung des einstigen US-Administrators Paul Bremer über die Aufständischen als "Dead-enders" (klägliche Reste) übernahmen. Eine Phrase, auf die auch Kollegen in Kabul nach wie vor zurückgreifen, um die deutlich wachsende Kraft der Taliban zu leugnen, die trotz aller Dementis von Präsident Musharraf durch den pakistanischen Geheimdienst (ISI) unterstützt werden.

Noch schlimmer ist es, wenn die tatsächliche Politik der an den Konflikten im Nahen Osten beteiligten Regierungen nicht untersucht wird. Warum beispielsweise gab es in den vergangenen Wochen keine Berichte über die diesjährige Herzliya-Konferenz auf den Titelseiten westlicher Zeitungen? Es handelt sich immerhin um die wichtigste politisch intendierte Zusammenkunft in Israel. Eine Herzliya-Konferenz war der Ort, an dem Ehud Olmert erstmals vorschlug, Teile der Westbank abzugeben, um die großen Siedlungen zu erhalten und einem Staat der Palästinenser zu entziehen. Es war dabei von einem palästinensischen Staat die Rede, der ohne eine Hauptstadt in Jerusalem und ohne Verbindung zwischen dem Gazastreifen und den übertragenen Restgebieten der Westbank auskommen sollte.

In diesem Jahr gibt es Artikel in der israelischen Presse über Herzliya, in denen vor der "Bedrohung" Israels durch die palästinensische Geburtenrate gewarnt wird. Sollte der demographische Gleichstand zwischen Juden und Arabern in Israel nicht schon 2010 eintreten, dann aber gewiss 2020. Bei früheren Konferenzen wurde deshalb bereits darüber diskutiert, notfalls israelischen Arabern einen Teil der Bürgerrechte zu entziehen.

Gleichfalls 2006 berichtete die Zeitung Haaretz von eine Meinungsumfrage, bei der 68 Prozent der israelischen Juden erklärten, sie würden sich weigern, mit einem israelischen Araber im selben Haus zu leben, 46 Prozent meinten, sie würden einem Araber nicht erlauben, sie in ihrer Wohnung zu besuchen. Der Wunsch nach solch kategorischer Trennung wird desto größer, je niedriger das Einkommen der Befragten ist. Freilich gab es keine Erhebung, um die Meinung der Palästinenser darüber zu erfragen, dass Zehntausende von Israelis in großen Siedlungen überall in der Westbank auf ihrem Land leben.

Diese Informationen können der arabischen - natürlich auch der israelischen - Presse entnommen werden, in großen Teilen unserer Zeitungen liest man davon nichts. Warum? Selbst als Norman Finkelstein einen vernichtenden Bericht über die Art und Weise schrieb, wie der Oberste Gerichtshof Israels "bestätigte", dass die Mauer vom Internationalen Haager Gerichtshof als illegal eingestuft wurde, fiel darüber im Westen kein Wort. Es gibt noch viele solcher Beispiele für unsere Angst vor der nahöstlichen Wahrheit. Abgesehen vom unermüdlichen Seymour Hersh findet man in der US-Presse keinen Autor, der sie auszusprechen wagt.

Niemand ist gebeten worden, auf offene Berichte über arabische Tyranneien zu verzichten. Nur sollten wir uns gelegentlich fragen, warum die muslimische Welt so viele Diktatoren produziert hat, von denen die meisten irgendwann einmal von "uns" unterstützt wurden. Stattdessen berichten wir eben weiter von der "nahöstlichen Tragödie" und erzählen der Welt, die Lage bessere sich, wenn sie schlimmer wird. Wir schreiben, die Demokratie blüht, obwohl sie im Blut versinkt - wir sagen, Freiheit ist nicht ohne Geburtswehen zu haben, während die Hebamme das Baby umbringt.

Es war schon immer meine Überzeugung, dass die Menschen in diesem Teil der Welt gern etwas von unserer Demokratie hätten. Sie hätten auch gern einige Packungen Menschenrechte aus unserem Supermarkt. Sie wollen Freiheit, aber eine andere Art von Freiheit - sie wollen von uns befreit sein. Und genau diesen Gefallen tun wir ihnen nicht, so dass unsere Präsenz in Nahost in eine noch größere Dunkelheit führt. Deshalb sitze ich auf meinem Balkon und frage mich, wo die nächste Explosion stattfindet - denn sie wird stattfinden.

Um Osama bin Laden kümmert sich keiner mehr, ob er nun tot ist oder lebt, scheint nicht wichtig. Die Atomwissenschaftler macht man auch längst nicht mehr dafür haftbar, dass es die Bombe gibt. Bin Laden schuf al-Qaida mitten im Brandherd des Nahen Ostens - und al-Qaida existiert.

Rund um all diese Länder gibt es eine Legion junger Männer, die einen Schlag gegen uns, unsere Symbole und Geschichte vorbereiten. Vielleicht sollte ich all meine Reportagen aus der Region mit den Worten beschließen: Passt auf!


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